Die Gruppe von Aspekten, in der man bei einem konfessionellen Unternehmen hingegen die Motivatoren vermuten würde, die die Gemeinschaft der Mitarbeiter zusammenhält und die Seele des Unternehmens charakterisieren, sind die operationalisierbaren, lebenstüchtigen christlichen Werte. Leider ging es in der Mehrzahl der Leitbilder hier genauso hölzern und unzeitgemäß zu wie in der Gruppe der betriebswirtschaftlichen Aspekte: Nächstenliebe etwa, die eher als Grundvoraussetzung gelten sollte, wurde in 54 Prozent der Krankenhausleitbilder als Leitwert des Unternehmens angeführt – und damit viermal so häufig wie die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter in Glaubensfragen, die in einem zukunftsorientierten Unternehmen – auch christlicher Prägung – für die Außenwirkung des Unternehmens um ein Vielfaches wertvoller wäre.
Existenziell wichtig wird die zeitgemäße Ausdifferenzierung solcher Werte schon in Anbetracht der absehbaren Personaldilemmata, die in den nächsten Jahren auf die Krankenhäuser zukommt und für die Patienten ohnehin längst Realität ist. Stattdessen werden nicht operationalisierbare Werte wie „Botschaft Jesu Christi“ (33 Prozent) und „Evangelium“ (24 Prozent) zum Gegenstand der Leitbilder gemacht. Das sind Wertmuster, die insbesondere mit Blick auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Patientendemografie keinen Wert für die Positionierung der Gesundheitsunternehmen haben. Vor allem aber sind es Wertmuster, die in ihrer unzeitgemäßen Interpretation völlig ungeeignet als Verhaltenskompass und Motivationsmotor für die Mitarbeiter der Krankenhäuser sind. Operationalisierbare Werte wie Fairness und Teamorientierung hingegen versinken in den meisten Krankenhausleitbildern in der Bedeutungslosigkeit.
Aspekte, die für ein Krankenhaus, das als Unternehmen an einem dem – zumal verletzlichen, weil kranken – Menschen dienenden Markt platziert ist, absolut selbstverständlich sein sollten, geraten in vielen Kliniken ins Hintertreffen: Respekt gegenüber dem Patienten wird viel zu selten vorausgesetzt. Auch der Bezug zur Gemeinnützigkeit, also dem Dienst am Menschen, oder einer bedingten Unterordnung wirtschaftlicher Aspekte unter jene der Diakonie – was nicht nur jeder Notfallpatient sich von einem Krankenhaus wünschen würde – sucht man in den meisten Leitbildern vergeblich. Von einem dezidierten Serviceverständnis fehlt – wie so häufig in Deutschland – ohnehin in fast allen Leitbildern jede Spur.
Leitbilder, die so ethikfern gewichten, die so altbacken auf traditionellen, nicht operationalisierbaren und oft auch nicht mehr zeitgemäßen Werten aufbauen, anstatt sich dem Schatz an christlichen Werten anhand zeitgemäßer Interpretationen zu bedienen, der ihnen naturgemäß zur Verfügung steht, sind praktisch nutzlos für die Zwecke, denen sie eigentlich dienen sollten: Sie sind nicht geeignet, um das Unternehmen nach außen als ethisch sauber und – an einem so breit aufgestellten und gleichzeitig sensiblen Markt wie dem Gesundheitsmarkt besonders wichtig – werteprogressiv darzustellen.
Oft wird vom Klinikmanagement vergessen, dass nicht nur die Patienten während ihres Aufenthalts direkt erfahren, wie sehr die Klinik die (selbst) gesetzten Erwartungen an Wertekonformität erfüllt, sondern eine oder zwei weitere Generationen durch die Freunde, Kinder und Enkel der Patienten in diese Erfahrung mit eintauchen – bei jedem einzelnen Besuch. Jeder „Touchpoint“ eines Patienten oder Besuchers mit Klinikpersonal, dritten Dienstleistern, Atmosphäre und kollegialem Umgang wird im individuellen Erfahrungsspeicher fest eingebrannt. So baut sich schnell ein ganz bestimmtes Bild von den „gelebten Werten“ und möglichen Diskrepanzen einer Klinik auf. In Zeiten der Social Networks und zukünftiger Bewertungsplattformen im Gesundheitssektor kommt eine zusätzliche Dynamik durch die Weitervermittlung dieser Eindrücke im Internet auf.
Viel wichtiger noch: Starre, nicht dem Zeitgeist entsprechende Leitbilder sind nicht geeignet, um das Unternehmen von innen heraus anzutreiben. Schon heute ist absehbar, dass das deutsche Gesundheitswesen in den nächsten Jahren kreativ sein muss, um seine angespannte Personalsituation im Griff zu behalten. Dann sind Kliniken im Vorteil, die ihren Angestellten im von Kostendruck geprägten Gesundheitssektor einen Arbeitsplatz bieten, der ihnen ermöglicht eben jene Werte zu leben, die sie zu dieser Karriereentscheidung geführt haben. Kein Angestellter hingegen wird sich für ein Unternehmen entscheiden, das mit den Evangelien als Leitwert aufwartet und gleichzeitig Effizienz in der Positionierung vor Respekt setzt.
Noch bedenklicher: Heilberufe gehören zu den emotional anspruchsvollsten überhaupt. Dass immer mehr Ärzte den Wunsch entwickeln, unter den dramatischen wirtschaftlichen Bedingungen in vielen Kliniken das Handtuch zu werfen, reiht sie ein in die Gruppe der ambitionierten High Performer, denen aus extrinsischen Gründen verweigert wird ihre Werte zu leben.
Die seelische Unterforderung des mittleren Managements
Sehr häufig ist im Zusammenhang mit beruflicher Stagnation, Orientierungslosigkeit und allgemeinen Karrierethemen speziell im mittleren Management von der Gefahr des Burnouts die Rede. Diese Gefahr entsteht durch die Überforderung gerade von High Performern durch ein Übermaß an operativer Verantwortung, wie sie etwa mein Coachee Martin in sich vereinte. Selten thematisiert wird hingegen die seelische Unterforderung, die insbesondere im mittleren Management mindestens ebenso verbreitet ist wie ein hohes Burnout-Risiko. Dabei ist die seelische Unterforderung ein Symptom der gleichen Rahmenbedingungen: Machtspielchen unter den Kollegen, knappe Budgets und ein Mangel an Mitarbeitern sind laut einer Umfrage, die der Focus 2011 zitierte, die größten Managersorgen auf der mittleren Führungsebene. Die wenigsten Manager hingegen fühlen sich durch ihre eigentlichen operativen Aufgaben übermäßig belastet.
Diese Kombination von Belastungsfaktoren führt dazu, dass die Führungskräfte sich ihren Aufgaben aufgrund der vielfältigen emotionalen Stressoren nicht mit der notwendigen inneren Ruhe und Kreativität widmen können. Sie erledigen ihren Job nach Vorschrift, oft genug sogar mit Hilfe von fragwürdigen Methoden, um gegenüber ihren internen Konkurrenten nicht das Nachsehen zu haben. Erneuerungen, die zu Kosten und vorläufigen Reibungsverlusten führen könnten, werden schon aus diesem Grund von den Verantwortlichen oft gar nicht erst ins Spiel gebracht: Sie sind unpopulär, wenn es darum geht, möglichst konfliktarm die Karriereleiter zu erklimmen.
Ein High Performer, der bestimmte Ideale verfolgt und seinen Job bewusst gewählt hat, um Fortschritt mitzugestalten, wird in einem solchen Umfeld fachlich allerdings sehr früh an die Grenzen des Machbaren stoßen. Er ist auf kurz oder lang immer stärker in interne politische Spielchen verstrickt und verbringt immer weniger Zeit damit, seine Fähigkeiten zu nutzen oder gar zu erweitern. So wird er gezwungenermaßen auch die konstruktive Seite der Personalführung zunehmend vernachlässigen, weil sie auf der Jagd nach Benchmarks nicht als Sofortmaßnahme taugt.
Wenn überhaupt, wird er noch mehr Autorität ausüben, nicht aber sich die Zeit nehmen, die Kreativpotenziale seiner Mitarbeiter zu ergründen. Er verliert die Freude an den Inhalten seines Berufs, denn er kann sich ihnen nicht mit der nötigen Muße widmen; alles, was er sich fachlich erträumt hat, scheint ohnehin nicht realisierbar. Er ist seelisch unterfordert, denn die Werte, mit denen er sich für seinen Beruf und das Unternehmen entschieden hat, sind zu Worthülsen verkommen – er kann sie nicht umsetzen, er kann sie nicht leisten. Sein Potenzial bleibt ungenutzt – er ist unzufrieden.
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