Marie L.: Ah, ja.
Frank W.: Oder meinen Rausschmiss aus meiner Lehrstelle im letzten Lehrjahr. Das war schlimm. Wir durften ja kein Handwerk mehr erlernen. Ich wollte eigentlich Autoschlosser werden. Ging nicht, dann wurde ich Hilfsarbeiter in ganz verschiedenen Berufen. Auf dem Bau oder als Kohlenschlepper in einer Firma am Alex. Wir hatten alle möglichen Kunden, angefangen bei den Schauspielern Heinz Rühmann oder Theo Lingen bis zu Herrn Himmler, den wir auch beliefern durften. Wenn der Himmler gewusst hätte, wer ihm dort die Kohlen lieferte, wären wir wahrscheinlich nicht am Leben geblieben.
Marie L.: Hm.
Frank W.: Später die Reichskristallnacht 1938. Kamen Leute zu mir und sagten: Es brennt. Ich sagte: Wo? Hier? Ich arbeitete gerade als Wagenwäscher in einer Garage. Da lachten die: Nee. Deine Synagoge. Ich lief in der Mittagspause zum Vater. Der meinte: Wenn die Synagogen brennen, geht es uns auch bald an den Kragen. Er sollte Recht behalten.
Marie L.: Und vor 1933? Haben Sie da persönlich Antisemitismus erlebt? Wie war das in der Schule? Klassenkameraden?
Frank W.: Ja. Nein, wissen Sie, in der Arbeiterklasse gab es sowas kaum. Das war eher bei den Reichen.
Marie L.: Wie, Sie haben vor 1933 keinen Antisemitismus - ?
Frank W.: Na, ich muss sagen. Ich war ja Jungkommunist, da spielte sowas keine Rolle.
Marie L.: Wussten denn ihre Genossen damals, vor 1933, dass Sie aus einer jüdischen Familie stammten?
Frank W.: Wenn ich es mir richtig überlege, habe ich denen das wahrscheinlich nicht gesagt. Da war anderes wichtig, also die politische Arbeit, der Arbeitersport und sowas.
Marie L.: Aber Sie sagten vorhin, dass man in Ihrer Familie koscher aß. Hat sich da keiner Ihrer Schulfreunde oder von den KJVDlern [1] gewundert oder lustig gemacht oder Ähnliches?
Frank W.: Ach, die habe ich gar nicht zu mir nach Hause geholt. Mutter war ja doch ein bisschen traditionell, ganz anders als der Vater. Mutter schon. Zu Hause war es auch zu eng. Wir haben eher auf der Straße gespielt.
Marie L.: Und in der Schule?
Frank W. (ärgerlich): Na, was sollten die schon mitgekriegt haben. Es gab doch keine Schulspeisung. Ich habe nur zu Hause koscher gegessen. Mutter zuliebe.
(Es folgen von Frank Wehlers nicht genehmigte Abschnitte, in denen er von den Motiven für seinen HJ-Eintritt, von dem Rausschmiss aus seiner Schule, aus der HJ berichtet und von sozialdemokratischen Genossen während der Reichspogromnacht und ihren Vorwürfen nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Erlaubt sind dann wieder die folgenden Passagen.)
Frank W.: Ja, der Genosse Paul Z. Der hat mich damals tief beeindruckt. Er ist ja fast so alt wie ich, aber noch heute von einer Energie, die alles um ihn herum erfasst. Und der konnte reden – ich habe ihm immer begeistert zugehört. Fast beneidet habe ich ihn, wie er Dinge auf den Punkt brachte, mit welcher Überzeugungskraft er auch Nichtkommunisten begegnete. Ich habe ihn immer mit wehenden schwarzen Haaren in Erinnerung, obwohl Bilder zeigen, dass sein Haar schon damals grau war. Aber so war er.
Marie L.: Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Frank W.: Ach, das war während der schlimmsten Nacht meines Lebens. Sie wissen, was die Fabrikaktion ist?
Marie L.: Ja, aber erzählen Sie es trotzdem.
Frank W.: Da wurden im Februar 1943 in einer Nacht 100.000 Juden aus den Fabriken geholt, verhaftet und deportiert. In ganz Deutschland. Noch heute frage ich mich, wie im Nachhinein die Kollegen in den Betrieben darüber dachten – die hatten das doch mitgekriegt. Persönlich hatte ich Glück, aber mein Vater und meine Familie nicht. Alle tot. (Nach einer Pause:) Ich war gewarnt worden und überlebte im Versteck bei einer kommunistischen Familie.
Marie L.: Wer hat Sie gewarnt?
Frank W.: Tja, mein Chef. Ich glaube, dass da schon Paul Z. beteiligt war, der besuchte mich am nächsten Morgen. – Warum schreiben Sie eigentlich mit? Das Tonband läuft doch schon?
Marie L.: Damit ich später besser nachfragen kann, sonst vergesse ich meine Fragen, die mir bei Ihrer Erzählung kommen. Jetzt will ich Sie nicht unterbrechen.
Frank W. (erneut): Schön finde ich das nicht.
Marie L.: Ich kann es ja lassen.
Frank W.: Wissen Sie was? Wir lassen es für heute ganz. Irgendwie geht mir das alles zu weit. Ich möchte nichts Falsches sagen. Ich werde mich bei der Partei erkundigen, ob das alles rechtens ist. Dann können wir ja weiter sehen.
(Marie Lente murmelt etwas Unverständliches, dann wird das Tonband abgestellt.)
(Im Folgenden ihr Bericht, den sie offenbar kurz nach dem Interview mit Frank Wehlers am 15. Dezember 1988 geschrieben hatte.)
Frank Wehlers, den mir sowohl Walter Friedrichsen als auch der Herr von der Staatssicherheit empfohlen hatte, wohnt mit seiner Frau in einem Plattenbau mit Fernheizung. Im Hausflur der für mich typische DDR-Geruch: von Desinfektion, Bohnerwachs und Orienttabak, allerdings ohne den anderswo vorherrschenden Hausbrandqualm. Die Wohnung besteht aus drei Zimmern, Küche, Bad und Balkon. Überall Stores an den Fenstern, eine rote DDR-Couch-Garnitur. Eine Schrank-Glaswand in Mahagoni-Imitation. Obwohl oder weil diese DDR-Produkte im DDR-Jargon Weltspitze gewesen sein dürften, strahlten sie eine bedrückende Spießigkeit aus. Bedrückend vielleicht deshalb für mich, weil sie mich fatal an unsere ersten Westmöbel zu Hause, Anfang der 60er Jahre, erinnerten. Die Atmosphäre war gespannt herzlich, etwas gezwungen zwar und voller Wachsamkeit. Frau W., die krank war und an Depressionen litt, lag eigentlich in ihrem Bett, kam jedoch ab und zu mit Kaffee oder der Frage nach einem Likör. Sie war eine magere Frau, eingefallen und bitter. Herr W. war ein ziemlich großer Mann, mit schlohweißem vollem Haar, durchaus gut, ja noch geradezu attraktiv aussehend. Sein grauer Anzug stammte ebenfalls aus der DDR-Weltspitzenproduktion. Ab und zu zwinkerte er mit den Augen. Ich wusste nie, warum. Wollte er mir etwas anderes zu verstehen geben, als er sagte? Denn er schaute immer wieder mal an die Ecke, als ob da Wanzen versteckt waren. Oder hatte er nur eine Bindehautentzündung? Ich weiß es nicht. Dass er mit mir flirten wollte, schloss ich aus.
Drei Dinge waren es, die mich während des Interviews mit ihm wirklich erstaunten. Es erscheint mir wichtig für meine Thesen und auch für meine Selbstkontrolle in dieser Arbeit, dies festzuhalten:
Erstens seine Beschreibung des sozialistischen Milieus in Berlin vor 1933 als ziemlich frei von Antisemitismus. Wollte er damit einem vermuteten Antikommunismus auf meiner Seite entgegenwirken? Oder nahm er mit seiner kommunistischen Brille, den Antisemitismus bei Genossen nur nicht wahr? Oder gab es wirklich keinen? Auch seine Beschreibung der Berliner Kindheit außerhalb seines engen Umfeldes kommt ohne antisemitische Erfahrungen aus.
Zweitens die erstaunliche Widerspruchsbreite im Nationalsozialismus. Das scheint mir kaum glaublich. Ein Jude, der in die HJ ging, ein Unternehmer, der Juden warnte (und einige Tage versteckte), ein jahrelanges illegales Leben im Krieg. Und dann die hilfsbereite kommunistische Familie.
Zu Paul Z.: Bisher hatte ich Paul Z. als eher liebenswürdigen, verbindlichen Menschen geschildert bekommen. Bei Frank Wehlers wird er zum Abenteurer, voll sprühender Lebenskraft, keiner Gefahr aus dem Wege gehend, geradezu leichtsinnig siegesgewiss. Aber irgendetwas ließ Frank Wehlers zögern in seiner Erzählung über Z. Um ihn vor mir im rechten Licht dastehen zu lassen? Weil er ein „führender Genosse“ war? Oder weil er sein Freund war und ist? Mir scheint es noch etwas anders zu sein, fast unehrenhaftes. Nein, eher etwas, das Frank Wehlers ängstlich macht. (Reine Spekulation.) In jedem Fall werde ich ihn anschreiben oder anrufen. Vielleicht gibt er mir ja ein Interview.
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