1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »In etwa zwölf Kilometern«, sagte er und drehte sich zum Rücksitz. Er öffnete einen Koffer und entnahm ihm eine Polizeikelle. Er testete kurz die Beleuchtung und nickte dem Fahrer aufmunternd zu. Einige Minuten fuhren sie schweigend weiter, dann setzte der Fahrer zum Überholen an. Rechtzeitig vor der Nothaltebucht ließ der Beifahrer die Seitenscheibe hinunter und schwenkte die Kelle, während der Fahrer sukzessive die Geschwindigkeit verringerte. Aufmerksam beobachtete er im Rückspiegel, wie die Fahrerin des Pandas ebenfalls langsamer wurde und ihnen gehorsam über den Seitenstreifen in die Haltebucht folgte. Kaum war der Land Rover zum Stillstand gekommen, stiegen die beiden Männer aus und gingen betont langsam auf den Opel zu. Während der Fahrer so tat, als würde er auf einem Notizblock das Kennzeichen notieren, trat der Beifahrer an die Fahrertür. Das Fenster hatte die Frau bereits heruntergekurbelt, im Schein seiner Taschenlampe meinte der Mann zu erkennen, dass sie leicht nervös, jedoch nicht ängstlich war.
»Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?«
»Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Ich habe mich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten.«
»Ihr rechtes Rücklicht ist kaputt. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.«
Der Mann wählte bewusst einen nicht sehr freundlichen, aber auch nicht unverschämten Ton. Die Frau nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und kramte eine Weile darin herum. Schließlich fand sie ihr Portemonnaie und zückte einen rosafarbenen Euro-Führerschein, den sie dem Mann hinhielt. Während er diesen entgegennahm, versuchte Michelle Schneider, sich aus der Situation herauszureden.
»Sehen Sie, wenn ich das gewusst hätte, wäre ich natürlich an eine Tankstelle gefahren und hätte eine neue Birne gekauft. Aber ich habe das nicht bemerkt und der TÜV ist gerade mal vier Monate her. Können Sie nicht…«
»Die Fahrzeugpapiere«, unterbrach der Mann, behielt den Führerschein in der Linken und streckte die Rechte Michelle entgegen.
»Die müssen wohl im Handschuhfach sein…«, stotterte sie, löste den Sicherheitsgurt und beugte sich hinüber zum Beifahrersitz.
»Stop!«
Michelle hielt inne.
»Steigen Sie bitte aus.«
Sie zögerte einen Moment, seufzte hörbar, stieg aus, schlug die Tür zu und blieb daneben stehen.
»Hören Sie, bitte, die Papiere sind im Handschuhfach und es ist doch nur ein kaputtes Rücklicht. Ich…«
»Öffnen Sie bitte den Kofferraum.«
»Den Kofferraum? Aber ich…«
»Den Kofferraum, jetzt!«
Der scharfe Ton veranlasste Michelle sich in Bewegung zu setzen und um das Auto herumzugehen. Um die Frau nicht unnötig nervös zu machen, folgte der Mann ihr in gebührendem Abstand. Ohne zu bemerken, dass beide Rücklichter rot leuchteten, öffnete sie den Kofferraumdeckel, wandte sich dem Mann wieder zu und sagte in leicht trotzigem Ton:
»Bitte schön, wie Sie wünschen.«
Der zweite Mann, den sie über die Diskussion mit dem vermeintlichen Polizisten völlig vergessen hatte, tauchte lautlos hinter ihr auf. Noch bevor sie auch nur bemerkte, dass er hinter ihr stand, holte er mit einem Totschläger aus und traf mit dem Hartgummi präzise eine Stelle hinter und oberhalb der Ohrmuschel. Sofort sank sie bewusstlos zusammen und schlug hart auf den Asphalt. Unmittelbar darauf schritt der zweite zur Fahrertür, lehnte sich hinein und schaltete das Licht aus. Anschließend durchsuchten die beiden Männer, ohne sich abzusprechen, Kofferraum, Handtasche und Passagierraum nach Dokumenten oder Aufzeichnungen, die sie vielleicht aus der Rechtsmedizin mitgenommen hatte. Als sie nach professioneller Erledigung wieder am Heck des Wagens zusammentraten, fragte der Beifahrer:
»Raubmord oder Sexualverbrechen?«
Der Angesprochene überlegte kurz.
»Sexualverbrechen. Ist unter diesen Umständen wahrscheinlicher.«
Der Beifahrer nickte und schritt zur Tat. Er zog sich ein Paar alte Lederhandschuhe über, packte die bewusstlose Frau unter den Achseln und schleppte sie an den Rand der Parkbucht.
»Dort drüben im Gebüsch?«
Der Fahrer sah kurz auf.
»Ja, dort ist gut. Wälze sie ein wenig hin und her, die Spuren müssen auf wildes, gewaltsames Handeln hindeuten.«
Der Beifahrer legte die Frau an der bezeichneten Stelle ab, wälzte sie in die eine und in die andere Richtung, knickte einige Zweige und schleifte sie noch einige Male über den Boden. Während er in der Folge der Frau mit Gewalt die Bluse zerriss und den BH mit einem Taschenmesser aufschnitt, trat der Fahrer an den Kofferraum des Land Rover, wählte einen von drei identisch aussehenden Aluminiumkoffern aus und öffnete ihn. Er nahm eine Packung mit Kondomen, packte eines aus und stülpte es über einen sehr stattlichen Plastikpenis. So ausgerüstet ging er hinüber zu seinem Partner, der soeben einen Schuh der Frau ins Gebüsch geworfen hatte und jetzt dabei war, ihre Jeans möglichst brutal herunterzureißen.
Das grün-weiße Licht derHinweise zu den Notausgängen reichte ihm aus, um sich in dem Gebäude zu orientieren. Das Nachtsichtgerät hatte er im Auto gelassen. Er mochte dieses Gadget nicht. Es war schwer und er musste seine Brille absetzen, um es zu tragen. Natürlich verfügte es über eine einstellbare Dioptrie-Korrektur, jedoch musste er, wenn er das Gerät absetzte, zunächst seine Brille hervorkramen und aufsetzen. Und das konnte ihn, wenn die Umstände ungünstig waren, im Falle einer Konfrontation um die entscheidenden Sekundenbruchteile bringen. Kontaktlinsen wären eine Alternative, und nicht zum ersten Mal nahm er sich vor, in den kommenden Tagen dieses Thema anzugehen. Da er mit einer Taschenlampe riskierte, entdeckt zu werden, begnügte er sich mit den Gegebenheiten. Zunächst suchte er das zweite Obergeschoss auf. Er zählte die Türen, die auf der linken Seite des Korridors abgingen, und blieb vor der sechsten stehen. Wenn er sich nicht irrte, musste dies das Büro der Frau sein, die eben die Rechtsmedizin verlassen hatte. An der Tür oder dem Rahmen war keine elektronische Zugriffssicherung angebracht, also drückte er langsam die Klinke herunter. Der Eingang öffnete sich und er glitt durch einen schmalen Spalt in den Raum. Als er die Tür schloss war er sehr dankbar über den glücklichen Umstand, dass unmittelbar gegenüber der Bürotür in dem Flur einer der Rettungsweghinweise angebracht war, dessen Schein durch das Oberlicht drang und den Raum hinreichend ausleuchtete. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schreibtisch, wo mitten auf der Platte ein kleiner Stapel Papiere lag. Als er sie aufnahm und näher ans Licht hielt, erfüllte sich seine Hoffnung. Es handelte sich um Ausdrucke von Röntgenbildern, die ganz offensichtlich für den morgigen Tag vorbereitet waren. Er faltete die Handvoll Blätter zweimal und steckte sie in seine Seitentasche. Dann kniete er sich zu Boden und ertastete den Minitower des Computers. Dort, wo das Stromkabel eingesteckt war, legte er seitlich und hinten seine Hand auf – die Umgebung des Netzteils war kalt. Sie hatte also nicht am PC gearbeitet. Das war ein gutes Zeichen, so musste er sich zumindest hier nicht um die Vernichtung von Spuren kümmern. Er kontrollierte noch den Postausgangskorb, ließ seinen Blick prüfend durch das gesamte Büro schweifen und trat anschließend wieder auf den Gang. Sein nächstes Ziel war der Kühlraum, dessen Lokalisierung dank der ordnungsgemäßen Beschriftung des Aufzugstastenfeldes sehr leichtfiel. Ebenso schätzte er den Umstand, dass diese sensible Etage durch einen einfachen Knopfdruck anzusteuern war und nicht durch einen Schlüssel gesichert wurde. Die Benutzung der Treppe hätte, wenn auch nur geringfügig, die Gefahr der Entdeckung von außen erhöht. Er wusste: Es war mitunter die Summe der unbedachten Kleinigkeiten, die ein Vorhaben zum Scheitern bringen konnten. Als sich die Aufzugstüren wieder öffneten, blickte er im Licht der Notausgangsbeleuchtung erst nach links, dann nach rechts. Die Edelstahl-Doppeltür am Ende des Ganges schien der Eingang des Kühlraumes zu sein, und als er deren Klinke niederdrückte, öffnete sie sich wider Erwarten und im Inneren des Raumes sprangen sechs Neonröhren an. Sofort ließ er den Blick schweifen und schloss die Tür hinter sich, nachdem er festgestellt hatte, dass der Raum keine Fenster hatte. An den quadratischen Schubfächern dankte er der deutschen Tugend, alles sorgfältig und sofort zu erledigen, und öffnete die Klappe, die handschriftlich mit Herbert Meyer beschriftet war. Er zog die Bahre zu etwa einem Drittel aus der dunklen Kammer und schlug das weiße Leintuch bis zu den Schultern zurück. Mit einem Griff brachte er die Röntgenbilder aus seiner Tasche zum Vorschein und studierte sie eingehend.
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