Gespannt klickte sie die Aufnahme des Schädels an. Da eine Hirnblutung schon am Nachmittag in Erwägung gezogen worden war, lenkte der dunkle Fleck, der sich ziemlich zentral im inneren des Schädels befand, sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. So wie es aussah, musste eine Arterie in der Region des Stammhirns geplatzt sein. Der zunehmende Druck auf die Formatio Reticularis hatte sicher schnell zu Atem- und allgemeinen Lähmungen geführt und schließlich den Tod Meyers verursacht. Angesichts der Ausdehnung des Fleckes musste es recht schnell gegangen sein. Ein Zusammenhang zwischen der Hirnblutung und dem Einsatz des Wasserwerfers würde sehr schwer zu beweisen, aber genauso schwer zu widerlegen sein. Immerhin war die Todesursache praktisch sicher geklärt. Die genaueren Umstände, zum Beispiel das Vorhandensein eines Aneurismas, konnte nur eine Sektion des Hirns enthüllen. Dafür war es aber diese Nacht definitiv zu spät. Mit einem lauten Gähnen lehnte sie sich zurück und blickte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Kurz nach halb zwei. Bis sie den Leichnam in ein Kühlfach verfrachtet, die Systeme heruntergefahren und ihr Zeug zusammengepackt hätte, würde es zwei Uhr morgens sein, die Autopsie musste also warten. Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Als sie aus dem Bild herauszoomte, um die Datei zu archivieren und zu schließen, blieb ihr Blick an einer winzigen Stelle im Innenohr hängen, die deutlich weißer war als die Knochen des Schädels und des Ohres. Ein Bildfehler, dachte sie, denn so hell zeigten sich auf Röntgenbildern normalerweise nur Strukturen aus Metall, Implantate etwa oder auch Projektile. Für beides war die betreffende Stelle viel zu klein und ein reiner Zufall, dass sie sie bemerkt hatte. Beim Vergleich mit den Ohrknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel schätzte Michelle die Größe des Objektes auf bestenfalls einen viertel Millimeter. Stirnrunzelnd griff sie zur Maus und zoomte auf die ominöse Stelle.
Enttäuscht lehnte sich MichelleSchneider in dem Bürostuhl zurück. Die Auflösung des digitalen Röntgenbildes gab einfach nicht genug her, um Form und Struktur des winzigen Fremdkörpers - und als solchen stufte sie den weißen Fleck mittlerweile ein – genauer zu spezifizieren. Sie kaute auf dem Ende eines Bleistiftes, der hinter der Tastatur gelegen hatte, und dachte angestrengt nach. Ein CT, nur von der Ohrregion, würde ihr erstens ein dreidimensionales Abbild verschaffen und auch die Auflösung nochmals um einiges heraufsetzen. Wieder blickte sie auf die Uhr an der Wand. Auch wenn ihre Neugier geweckt war, ihr Wissensdurst quälend nagte, sie war einfach zu müde!
Schluss, sagte sie halblaut zu sich selbst. Besprich das morgen mit Dr. Schwarz.
Sie legte den Bleistift weg, druckte die Bilder aus und versah sie mit einer Büroklammer. Dann drückte sie den Standby-Button an dem Computermonitor, schaltete das Licht aus und ging zu der Leiche im Röntgenraum. Sie deckte Herbert Meyer zu und klemmte die Bilder unter dessen Ellenbogen. Als sie den Rollwagen auf den Gang schob, das Licht im Raum ausschaltete und auf dem Flur wieder dem flackernden Licht ausgesetzt war, überkam sie von neuem das flaue Gefühl. Ohne sich umzudrehen steuerte sie den Kühlraum mit den Leichenfächern an. Dort angekommen, wählte sie ein Fach, an dem noch kein Zettel an der chromblitzenden Tür steckte, nahm die Röntgenbilder an sich und schob den Toten in die dunkle, gähnende Leere. Als der Stahlhebel das Fach verriegelt hatte, ging sie zu der Anrichte, nahm einen Namenszettel und schrieb gut leserlich Herbert Meyer darauf. Diesen steckte sie in den Einschub an dem Kühlfach. Sie zog sich die Latexhandschuhe aus, warf sie in den Mülleimer und wusch sich die Hände. Zu guter Letzt löschte sie das Licht und begab sich zu den Aufzügen, um in ihrem Büro ihre Tasche, Handy und Autoschlüssel zu holen. Sie sehnte sich nun wirklich nach ihrem Bett!
Jetzt wurde der Mannin dem Auto vor der Rechtsmedizin doch ein wenig unruhig. Wollte er seine Aufgabe wie gewohnt perfekt erledigen, wurde die Zeit allmählich knapp. Denn sein Job war Präzisionsarbeit, aufwändig, zeitintensiv. Und er hasste halbe Sachen. Zumal jeder noch so kleine Fehler das Potential barg, sich zu ernst zu nehmenden Problemen zu entwickeln. Doch just in dem Moment, als er abermals auf die Uhr sehen wollte, flammte hinter den Fenstern des Treppenhauses im zweiten Stock das Licht auf. Kurz darauf war auch im Fenster, das er bereits zuvor als das Büro des Institutsmitarbeiters identifiziert hatte, das Licht wieder an. Schemenhaft konnte er eine Gestalt erkennen, die in dem Raum umherlief. Dann ging das Licht aus. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Eingangstür und eine Frau mit langen dunklen Haaren steuerte auf den gelben Fiat Panda zu. Sie setzte sich hinter das Steuer, die Bremslichter leuchteten auf, kurz darauf auch die Rückfahrleuchten. Der Panda parkte aus und bog vor ihm in die Merianstraße Richtung Norden. Der Mann ging auf Nummer sicher. Er griff nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahltaste. Nach nur zwei kurzen Sätzen beendete er das Gespräch, ohne eine Antwort des Anderen abzuwarten, steckte das Handy ein, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Er ging quer über die menschenleere Kreuzung und zog sich im Laufen Einmalhandschuhe an. Am Eingang zur Rechtsmedizin angekommen studierte er die Zutrittskontrolle. Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er förderte ein Lederetui aus seiner Jackentasche zutage und wählte eine Karte von der Größe einer EC-Karte aus. Diese zog er einmal langsam durch den Schlitz der elektronischen Zugangskontrolle. Danach schob er die Karte in einen kleinen Apparat im Taschenrechnerformat und beobachtete das Spiel der auf der Front rot blinkenden LEDs. Eine nach der anderen wechselte die Farbe, bis die ganze Reihe grün leuchtete. Das Gerät verschwand wieder in seiner Innentasche, die Karte zog er abermals durch den Schlitz der Zutrittskontrolle. Als ein leises Summen die Entriegelung des Schlosses anzeigte, stieß er die Glastür auf und trat in das Dunkel des Raumes.
schwarzen Land Rover warteten geduldig, bis das Fahrzeug, das ihnen eben am Telefon beschrieben wurde, um die Ecke bog und, die Geschwindigkeitsbegrenzung von 30km/h peinlich genau einhaltend, an ihnen vorbeischlich. Erst als die Fahrerin an der nächsten Kreuzung den Blinker rechts setzte, startete der Mann hinter dem Steuer des Geländewagens den Motor und fuhr los. Nicht dass er damit gerechnet hätte, dass die Fahrerin des vorausfahrenden Wagens ihn sonst bemerkt hätte – sie war ja schließlich kein Profi – aber die Macht der Gewohnheit ließ sich nicht so leicht abschütteln. Ohne sich dem Auto weniger als fünfzig Meter zu nähern, folgte er dem Zielobjekt Richtung Süden. Das Lörracher Kennzeichen ließ darauf schließen, dass die Verfolgte entweder den Weg über den Schauinsland nach Todtnau oder über die Autobahn in Richtung Lörrach einschlagen würde. Beide Strecken boten mehrere Optionen, den Auftrag mit geringem Risiko zu erledigen. Sollte es nicht während der Fahrt gelingen, würden sie die Mitarbeiterin der Rechtsmedizin bis nach Hause verfolgen und dort einen alternativen Plan entwickeln.
»Autobahn«, sagte sein Beifahrer, als der Fiat am Basler Tor rechts auf die Ausfallstraße in Richtung Eugen-Keidel-Bad abbog. Tatsächlich fuhr der Wagen vom Zubringer Süd auf die A5 nach Basel. Außer der Verfolgten war kein Auto zu sehen. Der Fahrer fasste einen Entschluss.
»Wir nehmen eine Notausweiche. Die Rastplätze stehen um diese Zeit voll mit LKW.«
Der Beifahrer nickte und bediente das Navi in der Mittelkonsole.
Читать дальше