Sie schob ihren Stuhl an seinen Platz.
»Aber ich glaube nicht, dass ich sie jetzt brauchen werde, oder?«
Bierman schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht.«
Er packte seine Unterlagen zusammen und steckte sie in eine speckige Ledertasche.
»Und Sie müssen hier nochmal den Umgang mit der Schusswaffe unter Beweis stellen, obwohl Sie schon in Schleswig-Holstein bei der Polizei waren? Seltsam.«
»So wollen es wohl die Vorschriften. Außerdem hatte ich in Schleswig-Holstein die Sig Sauer P225 und hier wird seit kurzem die Heckler und Koch P2000 ausgegeben.«
Bierman zuckte mit den Schultern.
»Habe mir auch sofort eine H&K geben lassen, auch wenn die alten P5 weiterbenutzt werden sollten.«
Er steuerte die Tür an. Sarah folgte ihm aus dem Raum, den er, ohne sich von den anderen zu verabschieden, verließ.
Neugierig sah Sarah während
der Fahrt aus dem Wagen. Da Thomas Bierman nicht zum Reden aufgelegt schien, studierte sie die Umgebung. Sie war noch nie in Freiburg gewesen, und so beschränkte sich ihr Wissen über die Stadt und den Südschwarzwald auf den Text eines alten Baedekers , dessen Auflage ein Copyright aus den späten Achtzigern aufwies. Die entsprechenden Wikipediaeinträge zu lesen war ihr zeitlich nicht mehr möglich gewesen, da sie unmittelbar nach Abschluss ihres Falles in Husum die Umzugsvorbereitungen getroffen hatte. Gestern schließlich, als sie nach nervigen Staus bei Hannover, Kassel und zuletzt auf der A5 bei Karlsruhe erst bei Dunkelheit in Freiburg eingetroffen war, konnte sie nicht wie erhofft etwas von der Stadt erkunden. Sie hatte sich von ihrem Garmin Navigationsgerät direkt ins Park Hotel Post leiten lassen. Dies war für die nächsten knapp zweieinhalb Wochen ihre Unterkunft, denn die hübsche Maisonette, die sie kurzerhand ohne Besichtigung über einen Makler gekauft hatte, war noch nicht bezugsfertig. Sogar den Münsterturm, der die meisten Gebäude in der Stadt deutlich überragte, hatte sie heute Morgen auf dem Weg zum Präsidium lediglich kurz im Rückspiegel gesehen. Jetzt verrenkte sie sich schier den Hals, um sich zu orientieren, konnte aber nichts Markantes erkennen.
»In welche Richtung fahren wir?«, fragte sie Bierman.
»Westen, Richtung Flugplatz.«
Seine lakonische Antwort ließ nicht auf die Aufnahme einer Konversation hoffen, und so unterließ auch Sarah jeden Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Erst als sie von der Straße auf ein sehr weitläufiges, begrüntes Areal bogen und auf eine etwa fünfhundert Meter entfernte Menschenmenge zuhielten, war es Bierman, der die Stille unterbrach.
»Eine Demo gegen die jüngsten Beschlüsse des Bundestages bezüglich Datenvorhaltung, Vernetzung der internationalen Polizei und so.«
Er wies auf die etwa drei- bis viertausend Demonstranten.
»Ein Teil von denen hat bestimmt schon bei den Wyhl-Demos mitgemacht. Freiburg hat eine sehr ausgeprägte Demonstrationskultur, müssen Sie wissen.«
Sarah konnte dem Tonfall nicht entnehmen, ob das Gesagte lediglich der reinen Informationsvermittlung diente, oder ob Bierman auch eine bestimmte Wertung zum Ausdruck brachte. Sie sah ihn von der Seite an und entschied sich für ersteres. Angesichts seines fast schon rebellischen Äußeren konnte sie sich nicht vorstellen, dass er den Anliegen und Taten des eher linksalternativen Spektrums mit Respektlosigkeit und Sarkasmus begegnete. Ob er überhaupt politisch war? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Sie erreichten eine Absperrung, hinter der die sichtlich erregten Demonstranten von Einsatzkräften einer Hundertschaft in Schach gehalten wurden. Ein uniformierter Beamter winkte sie zu sich. Bierman ließ die Seitenscheibe hinunter und streckte dem Polizisten seinen Ausweis entgegen.
»Dort hinten«, sagte der Kollege und deutete in Richtung eines Einsatzwagens, der mit Blaulicht etwa fünfzig Meter entfernt stand. Auf sein Zeichen hoben zwei weitere Beamte das Absperrband und Bierman steuerte im Schritttempo den Fundort an. Durch das offene Seitenfenster konnte Sarah auch die Sprechchöre verstehen, die die wütende Menge ihnen entgegenbrüllte. Von Datenschutz und Privatsphäre war allerdings nichts zu hören. Vielmehr hallten ihnen Sätze wie Polizisten sind Mörder und Nieder mit der Staatsgewalt entgegen. Das Geschehen hatte sich also, wie nicht anders zu erwarten, wie ein Lauffeuer verbreitet. Innerlich zuckte sie mit den Achseln und auch Bierman schienen die verbalen Attacken kalt zu lassen. Von ihren Psychologieseminaren wusste sie, wie leicht eine Menschenansammlung, die im gemeinsamen Interesse gebildet wurde, und die einen gewissen Grad der Emotionalität erreicht hatte, durch einen kleinen Auslöser und geschickte Verstärkung durch einige wenige in eine andere Richtung dirigiert werden konnte. Insofern nahm sie den einzelnen Personen die verallgemeinerten Angriffe auf sie und ihren Berufstand nicht übel, auch wenn zu diesem Zeitpunkt tatsächlich niemand sagen konnte, wie das Opfer zu Tode gekommen war.
Bierman stoppte den Mercedes Kombi neben dem Einsatzwagen und er und Sarah stiegen aus.
»KTU? Rechtsmedizin?«, fragte er den Polizisten, der an der Motorhaube des Sprinters lehnte und mit einem Camcorder die Menge filmte.
»Noch nicht da!«, antwortete dieser ebenso knapp, ohne sein Auge von dem Okular des Gerätes zu nehmen.
»Da drüben liegt sie.«
Er zeigte auf den Wassergraben, der sich wenige Meter hinter den Fahrzeugen erstreckte und auf beiden Seiten in der Entfernung verlor.
»Sie?«, fragte Sarah und nahm die von Bierman angereichten Latexhandschuhe entgegen.
»Die Leiche. Ist aber offensichtlich ein Mann.«
»Wer hat die Leiche gefunden?« Sarah zupfte den weißen Latex zurecht.
»Zwei Frauen, die sich hier kennengelernt haben. Die eine Ende dreißig, die andere ein Teenager. Waren beide auf der Demo. Die Jüngere hat in dem Gerangel wohl einiges abbekommen und wurde von den Sanis in die Uniklinik gebracht. Die andere wollte sie begleiten.«
Bierman hob die Augenbrauen.
»Aussage? Personalien?«
»Personalien sind erfasst. Aussagen sind mager. Haben den Leichnam von da drüben aus entdeckt. Die Ältere hat nicht lange gefackelt und sofort den Notruf gewählt. Dann ist sie in den Graben gesprungen, hat den Toten irgenwie rausgewuchtet und sofort mit der Wiederbelebung begonnen.«
»Und uns so den Fundort kontaminiert und verwüstet.« Bierman schien die sofortige Reanimation nicht gutzuheißen, auch wenn sie die Person unter Umständen gerettet hätte. Er trat zu dem Leichnam und sah, die behandschuhten Fäuste in die Hüften gestemmt, nach unten. Sarah bezog neben ihm Stellung, versuchte den Lärm im Hintergrund auszublenden und begutachtete ebenfalls die Situation. Die Person, die mit aufgerissenen Augen und ebensolchem Hemd vor ihnen lag, schätzte sie auf etwa einen Meter fünfundsiebzig groß. Sie war, soweit der olivgrüne Parka und die braune Cordhose eine Beurteilung zuließen, normal gebaut. Die Haare waren mittelblond und relativ lang. Sofort fiel ihr auf, dass die eine Hand zur Faust geballt war und etwas Gras und ein kleines Stöckchen umfasst hielt.
»Er war noch nicht tot, als er herunterfiel«, lenkte sie Biermans Aufmerksamkeit auf ihre Beobachtung. »Er hat noch versucht, sich festzuhalten.«
Biermann nickte und förderte einen Teleskopkugelschreiber zutage. Er zog ihn aus und deutete auf eine Stelle, wo am Rand des Kanals in dem grünen Bewuchs etwas braune Erde und deutliche Spuren von Fingern zu sehen waren.
»Dort hat er sich festgekrallt.«
Sarah besah sich die Stelle genau und kam zu demselben Schluss wie ihr Partner.
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