»Wir bräuchten hier mal jemanden von der Polizei!«
Sie hob die Hand und ging hangabwärts, neugierig, was die Männer wohl gefunden hatten, das ihre Beurteilung erforderte. Am Wrack angekommen, folgte sie mit ihren Blikken dem Zeigefinger des Feuerwehrmannes, der sie gerufen hatte. In dem Durcheinander von gequetschtem, deformiertem Blech, Plastik und Filz konnte sie auch mattglänzende Metallteile erkennen. Schnell wurde ihr klar, dass es sich hier um zwei oder drei sehr stark beschädigte Aluminiumkoffer handelte. Einer war derart aufgerissen, dass Imke einen Teil des Inhaltes sehen konnte. Vor ihr lagen zwei Faustfeuerwaffen und sie konnte auch eine Maschinenpistole erkennen. Wegen der 9mm Patronen, die rund um eine aufgerissene Munitionsschachtel lagen, war sie sofort sicher, dass es sich nicht um Softair oder Gotcha Waffen handelte. Ihr lief es kalt den Rücken herunter.
»Stopp!«, rief sie laut. »Die Arbeiten sofort einstellen, treten Sie bitte alle von dem Fahrzeug zurück! Wir brauchen die Spurensicherung und die Kriminalpolizei!«
Sarah konnte die Freudein ihrem Gesicht nicht gänzlich unterdrücken, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete. Ihr Partner Bierman, der an dem rechten der beiden sich gegenüberstehenden Schreibtische in eine Akte vertieft war, nahm zunächst keine Notiz von ihr. Sie schloss die Tür und blieb provokativ, ohne ein Wort zu sagen mit der Klinke in der Hand stehen. Es dauerte immerhin eine halbe Minute bis Bierman ein wenig irritiert aufschaute.
»Lassen Sie mich raten, Sie möchten mir sicher etwas mitteilen.«
Sarah nickte.
»Nichts Großartiges, aber ich freue mich darüber«, sagte sie.
»Na, dann mal los.« Wirklich neugierig klang Bierman allerdings nicht.
Sarah zog ihre Heckler&Koch aus dem Halfter und ließ sie mit dem Abzugsbügel an ihrem Zeigefinger baumeln.
»Aha, Sie haben den Schießtest bestanden und Ihre Waffe erhalten. Dann kann ich Ihnen mein Leben ja nun bedenkenlos anvertrauen.«
Ob diese Feststellung einen etwas spöttischen Unterton enthielt oder Bierman einfach ein wenig belustigt auf ihre kindliche Freude reagierte, konnte Sarah nicht entscheiden, dazu war ihr der Kollege einfach noch zu undurchsichtig. Als er aber gratulierte und jetzt sind wir ein vollwertiges Team hinzufügte, war sie sich sicher, dass er sie nicht hatte veräppeln wollen.
»Sechsunddreißig aus der vier mal zehn Serie. Zwei neuner, eine acht«, teilte Sarah ihr sehr respektables Ergebnis mit. »Und der schlechteste Schuss bei allen Übungen eine einzige sechs.«
»Nicht schlecht«, antwortete Bierman und Sarah ging an ihren Schreibtisch, auf dem immer noch zwei ungeöffnete Pappkartons standen.
»Ich sollte mich wohl so langsam mal häuslich einrichten«, stellte sie mit einem gespielt sorgenvollen Gesicht fest.
Gerade als sie die Pistole wieder in das Gürtelhalfter gesteckt und einen der beiden Kartons geöffnet hatte, klingelte das Telefon.
»Gröber«, nuschelte Bierman und das angewiderte Gesicht sprach Bände. Doch während des Gesprächs hörte er dem Ressortleiter aufmerksam zu und legte schwungvoll den Hörer auf.
»Das häusliche Einrichten muss warten. Wir treffen uns im Besprechungszimmer mit den anderen. Er will ein Kurzbriefing mit uns machen. Anscheinend hat es bei einem Unfall im Höllental einen Waffenfund gegeben.«
Sarah sah sich das Chaos auf ihrem Schreibtisch an, das sie so gerne in eine geordnete Arbeitsstätte überführt hätte. Nach eingehender Betrachtung der Gesamtsituation entschied sie, dass die Seite ihres Partners auch nicht besser aussah.
»Okay, dann lassen Sie uns gehen«, sagte sie, zog einen Collegeblock aus dem Durcheinander und steuerte wieder die Tür an. Bierman stand auf und folgte ihr zu dem Besprechungsraum, wo sich bereits der gleiche Kreis eingefunden hatte, wie bei ihrer Begrüßung zwei Tage zuvor.
»Ich möchte es ganz kurz halten«, kündigte Ressortleiter Gröber an, nachdem Sarah, Bierman und die Kollegen Polocek, Berner und Pfefferle am Konferenztisch Platz genommen hatten.
»Wie Sie vielleicht am Rande mitbekommen haben, ist es heute am frühen Morgen zu einer Massenkarambolage beim Gasthaus Sternen gekommen. Mehrere Tote und Verletzte, die Bergungsarbeiten sind auch jetzt noch im Gange.«
Nico Berner rümpfte unverhohlen die Nase. Möglicherweise rechnete er damit, dass sie bei den Uniformierten aushelfen sollten und die ziemlich despektierliche Art, in der er die nächste Frage stellte, bestätigte den Anschein.
»Und was hat das mit uns zu tun?«
Gröber blieb sachlich.
»Bei der Bergung eines der zerstörten Fahrzeuge sind neben den beiden toten Insassen auch Waffen gefunden worden. Wegen Personalmangels helfen wir an dieser Stelle aus.«
Thomas Biermans Gesichtsausdruck verfinsterte sich.
»Als ob wir nicht auch zu kämpfen hätten«, erboste er sich.
»Wir haben eine komplett unterbesetzte SOKO im Fall Michelle Schneider, und für mich hat er Priorität. Wir sprechen von Schwarz` Kollegin!«
Gröbers Gesicht wechselte innerhalb weniger Sekunden die Farbe. Doch der von allen erwartete Ausbruch blieb aus. Der Chef atmete dreimal tief durch und griff mit der Rechten in die Hosentasche.
»Bierman, Sie, Frau Hansen und Herr Pfefferle werden weiterhin an diesem Fall arbeiten. Frau Polocek und Herr Berner, Sie beide kümmern sich um den Waffenfund.«
Der sonst so ruhige Pfefferle stöhnte.
»Zwei Leute? Weil man eine Waffe gefunden hat?«
Auch wenn Sarah ihren Vorgesetzten noch nicht so gut kannte wie die anderen, vermutete sie richtig, dass Gröber mit dieser Maßnahme den anderen Dezernaten demonstrieren wollte, wie gut sein „Laden“ organisiert war.
»Ja, zwei Leute. Polocek, Berner, machen Sie sich auf den Weg. Die Aufräumarbeiten gehen nicht weiter, bis Sie und die Spurensicherung den Unfallort wieder freigeben.«
»Sofort?«, fragte Polocek etwas zögerlich.
»Haben Sie nicht zugehört? Ja, sofort! Ich erörtere das weitere Vorgehen im Fall Schneider mit Ihren Kollegen.«
Polocek und Berner erhoben sich und verließen wortlos den Raum. Gröber wandte sich an die verbleibenden drei Ermittler.
»Ich habe dafür gesorgt, dass Sie weitere acht Kollegen für die Sonderkommission zur Seite gestellt bekommen. Dann sind das insgesamt zwölf Beamte. Die Meldungen aus den Dezernaten liegen schon bei Frau Dörr. Pfefferle, Sie stellen das Team zusammen. Die Techniker bauen gerade alles Nötige im großen Besprechungsraum auf. Und Sie, Frau Hansen und Herr Bierman, berichten mir jetzt mal von Ihren ersten gemeinsamen Tagen!«
Der Mann wusste nicht, zum wievielten Mal er am heutigen Tag die Wahlwiederholungstaste gedrückt hatte. In der Hoffnung, dass diesmal das Gespräch entgegengenommen würde, lauschte er auf das Piepen, das ihm signalisierte, dass die Nummer übertragen wurde. Doch erneut verkündete die sanfte Frauenstimme: The number you have dialed is temporarily not available, please try again later.
Er runzelte die Stirn. Die zwei Stunden, innerhalb derer das Team gemäß Vorschrift zu erreichen sein musste, war mittlerweile um das Vierfache überschritten. Trotzdem zögerte er noch. Ein Blick auf den kleinen, nahezu unzerstörbaren B&W Outdoorkoffer, der mit zwei Abus Vorhängeschlössern gesichert neben ihm auf dem Beifahrersitz stand, beruhigte ihn wieder. Wäre es zu dem Kommunikationsausfall gekommen, bevor er dessen Inhalt in der Rechtsmedizin hatte sicherstellen können, hätte er sich die Passivität nicht erlauben können. Jetzt aber, da er beide Phasen der Operation erfolgreich abgeschlossen hatte, konnte er seine Wartezeit rechtfertigen. Trotzdem war es jetzt an der Zeit, Lodz zu informieren. Er öffnete die Folie eines originalverpackten Prepaidhandys und setzte den Akku ein. Dann griff er in die Innenseite seines Jacketts und holte einen unscheinbaren Kugelschreiber hervor. Er betrachtete ihn kurz und brach dann das hintere Ende entzwei. Aus einem Bruchstück lugte eine fabrikneue SIM Card hervor, die er entnahm und in das Mobiltelefon einsetzte. Im darauf gespeicherten Telefonbuch befanden sich nur zwei Nummern, von denen er die untere auswählte. Diesmal dauerte es nur wenige Sekunden, bis am anderen Ende jemand abhob.
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