»Hier hat er sie oder besser sich festgehalten, während er den Coitus vollzogen hat. Er hat sehr, sehr kräftig zugepackt.«
»Dementsprechend hat sie während des erzwungenen Geschlechtsakts noch gelebt.«
Schwarz blickte auf und sah Sarah zum ersten Mal am heutigen Tag direkt in die Augen.
»Richtig. Alle Verletzungen entstanden prämortal, deswegen die starken Einblutungen.«
»Hautreste oder Schuppen an den Riemen des Büstenhalters?«
Schwarz blätterte einige Seiten weiter.
»Ich habe tatsächlich Abrieb gefunden, konnte das aber unter dem Mikroskop schon als Leder identifizieren. Der Täter hat meiner Meinung nach Wildlederhandschuhe getragen. Aber der BH ist natürlich in der KTU, falls sich noch etwas anderes darauf befindet.«
Er blätterte wieder zurück.
»Bleiben wir zunächst bei den Hämatomen.«
Er wies auf die blauen Flecke an der Innenseite der Oberschenkel.
»Hierbei handelt es sich um die typischen Male bei nicht einverständlichem, extrem harten Geschlechtsverkehr. Die Spuren entstehen beim wiederholten, sehr unbeherrschten, ekstatischen Eindringen in die Vagina durch die Hüften des Täters. Für gewöhnlich, wenn ein Opfer über einen längeren Zeitraum mehrfach missbraucht wird. Oder aber bei ausschweifender Gewalt.«
Sarah biss sich auf die Unterlippe, Bierman runzelte nachdenklich die Stirn.
»Jetzt wird es besonders unschön. Die Verletzungen im vaginalen Bereich sind sehr schwer. Sie haben das Blut gestern ja sicher gesehen. Die Details erspare ich Ihnen beiden, aber das ist das Schrecklichste, was ich bisher gesehen habe.«
Sarah sah an die Decke des Raumes und atmete tief durch.
»Kann es sein, dass der Täter ein Werkzeug dazu benutzt hat?«
»Ausschließen kann ich das nicht. Aber es spricht nichts zwingend dafür. Sollte es ein Werkzeug gewesen sein, war es nichts Scharfkantiges, auch nichts, was übermäßig lang oder übermäßig dick gewesen ist. Also kein Besenstiel oder ein Baseballschläger oder gar ein Messer. Angesichts der anderen Spuren würde ich mich wirklich auf den tatsächlichen Vollzug des Geschlechtsverkehrs in der Missionarsstellung festlegen. Aber eben sehr ex- und intensiv.«
»Spermaspuren? Fremdblut?«, kam Bierman Sarah mit seiner Frage zuvor. »Wenn er mit seinem Genital so wild am Werk war, dürfte er sich doch auch selbst Verletzungen zugezogen haben?«
Schwarz verneinte.
»Spermaspuren kann ich jetzt schon fast sicher ausschließen. Es sei denn, die Menge war so gering, dass ich optisch nichts sehen konnte. Das und auch die Frage nach Fremdblut kann ich erst nach Auswertung der Abstriche machen.«
»Das heißt«, griff Sarah den Faden auf, »dass er entweder ein Kondom benutzt hat, oder aber nicht zum Orgasmus gekommen ist.«
»Für letzteres spricht die exzessive Gewalt. Vielleicht hat er mit aller Anstrengung versucht, zum Orgasmus zu kommen, dies jedoch nicht geschafft.«
Sarah nickte.
»Das würde dann möglicherweise auch erklären, dass sie im Anschluss erwürgt wurde, als eine Art Strafe, dass es nicht geklappt hat. Dann wäre eine dauerhafte Anorgasmie möglicherweise das antreibende Moment des Täters, der…«
»Stopp!«
Biermans Einspruch klang zwar hart, aber sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er nicht genervt oder verärgert war.
»Bevor wir den Täter zu einem Serienkiller mit sexueller Dysfunktion machen, warten wir doch ab, ob die noch ausstehenden Informationen nicht auch einfachere Schlussfolgerungen erlauben.«
Jetzt lächelte er sogar.
»Ich weiß, dass Sie in Sachen Profiling über eine bessere Ausbildung und sogar über praktische Erfahrung verfügen. Aber vergessen Sie nicht: In den allermeisten Fällen sind die Dinge das, wonach sie aussehen. Und hier sehe ich im Moment eine Vergewaltigung mit anschließendem Vertuschungsmord. Vertuschung in dem Sinne, eine Zeugenaussage in Form einer Täterbeschreibung zu verhindern.«
Sarah starrte Bierman einige Sekunden an, dann lenkte sie ein.
»Ja, natürlich. Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen.« Sie überlegte kurz.
»Konzentrieren wir uns auf das, was wir haben.« Bierman wandte sich an Schwarz.
»Das Ganze war für den Täter sicherlich körperlich sehr anstrengend. Er wird doch sicher ordentlich ins Schwitzen gekommen sein?«
»Davon ist auszugehen. Keine Sorge, ich habe von allen Hautregionen inklusive Gesicht Abstriche gemacht, die diesbezüglich untersucht werden. Und natürlich werden die Kleidungsstücke auch entsprechend behandelt.«
»Wie sieht es mit Spermizid aus?«, fragte Sarah.
»Die Ergebnisse kommen mit den anderen Laborbefunden. Eine Sache habe ich allerdings noch.«
Sarah und ihr Partner sahen Schwarz erwartungsvoll an.
»Bei der routinemäßigen Untersuchung der Fingernägel konnte ich Textilfasern sicherstellen. Ob auch Hautpartikel mit dabei sind, kann ich nicht sagen. Aber da ich mich nicht beherrschen konnte, habe ich, bevor die Probe an die KTU ging, schon mal draufgesehen. Die Fasern passen augenscheinlich zu keinem der Kleidungsstücke, die Frau Schneider am Tag ihrer Ermordung trug. Sie hat sich also wahrscheinlich gewehrt und dem Täter ans Jackett gefasst oder so ähnlich.«
»Und da Sie keine Abwehrverletzungen erwähnt haben, nehme ich an, dem Täter hat der Griff in seine Kleidung nichts ausgemacht«, stellte Bierman fest. »Dann werden wir auch keine Hautpartikel finden«. Er zuckte mit den Schultern. »Sonst noch irgendetwas?«
Schwarz schüttelte den Kopf.
»Also vielen Dank einstweilen.«
Der Rechtsmediziner zog den rechten Handschuh aus und schüttelte den beiden Polizisten die Hand.
»Ich melde mich mit jedem neuen Zwischenergebnis«, versprach er zum Abschluss. Auf dem Weg nach oben sah Sarah erschrocken auf ihre Armbanduhr.
»Oh«, sagte sie. Ich habe in zehn Minuten meinen Termin auf dem Schießstand, schaffen wir das noch?«
Bierman ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Jep«, sollte das einzige sein, was er dazu sagte.
Als Polizeimeisterin Imke Gellert
mit ihrem Partner Sven Baldas mit Blaulicht auf der B31 Richtung Höllental fuhr, hatte sie bereits ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie wusste nicht viel über den Unfall, zu dem sie gerufen worden waren, doch das Wenige reichte, um sich ein Schreckensbild auszumalen. Ein Vierzigtonner hatte, aus Titisee kommend, nicht weit hinter der berüchtigten Nadelöhrkurve an Fahrt aufgenommen und schließlich in der Kehre, kurz bevor die Straße zweispurig wurde, die Mittellinie überfahren und dabei ein bergauf fahrendes Fahrzeug frontal getroffen. Im Anschluss seien noch mindestens drei weitere Fahrzeuge in den querstehenden Auflieger gerast. Über Tote und Verletzte war noch nichts bekannt. Da Imke und Sven gerade in Kappel auf Streife waren, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach die ersten Einsatzkräfte am Unfallort sein, die freiwilligen Feuerwehren des Dreisamtales vielleicht ausgenommen. Jedoch konnte Imke immer, wenn sie konzentriert ein vorausfahrendes Fahrzeug überholte, im Rückspiegel ein ganzes Meer von Blaulicht erkennen. Die Feuerwehr und Rettungswagen aus Freiburg waren also kurz hinter ihnen. Bei Buchenbach registrierte Imke, dass ihnen keine Fahrzeuge mehr entgegen kamen, so dass es einfacher wurde, die anderen Autos zu überholen. Unmittelbar hinter ihnen fädelten sich zwei Wagen der freiwillligen Feuerwehr Buchenbach ein und blieben praktisch in ihrem Windschatten. Kurz vor dem Ortsschild Falkensteig verlangsamte sich der Verkehr deutlich und beim Gasthof Zu den zwei Tauben kam die Blechkolonne vollends zum Stillstand. Da die Straße offensichtlich in beiden Richtungen vollständig blockiert war, konnte sie es wagen, zügig auf der Gegenspur an dem Stau vorbeizufahren. Über Funk hörten Imke und Sven, dass sich auch aus Hinterzarten und Titisee Einsatzkräfte der Unfallstelle näherten. Aber auch sie hatten den Ort des Geschehens noch nicht erreicht. Als sie auf Höhe der St. Oswald Kapelle die ersten Autos wenden sah, musste sie Tempo wegnehmen und nutzte die Chance, das Radio einzuschalten. Ein Sprecher verkündete gerade, dass laut eines Staumelders die Höllentalstrecke durch einen querstehenden LKW blockiert sei und riet Ortskundigen, das Gebiet zu umfahren. Es sei noch nicht abzuschätzen, wann die Unfallstelle geräumt sei, da die Rettungskräfte noch nicht vor Ort seien. Dann verwies er noch auf die SWR3 -Stauhotline und spielte anschließend Budapest von George Ezra ein. Imke schaltete das Radio aus. Erfreulich, wie schnell solche Informationen mittlerweile die Autofahrer erreichten.
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