Eilig fuhr er sich durch die dunkelblonden Haare und brachte die widerspenstigen Strähnen mit etwas Gel in Form.
Ray war ein durchtrainierter Typ, doch heute fühlte sich sein hart erarbeitetes Sixpack nicht wie Stahl, sondern eher wie Wackelpudding an. O Gott, was hatte er gestern nur wieder angestellt?
Vielleicht war er ja nur laufen? Also joggen, so wie junge, sportbegeisterte Menschen es eben taten, um fit zu bleiben.
Wohl kaum.
Oder ’ne stinknormale Kneipenschlägerei – die er verloren hatte?
Definitiv nicht.
Hastig stopfte er noch seine Klamotten vom Vortag in die Waschmaschine. Die nagelneue Jeans war voller Löcher und mit striemigen Grasflecken übersät. Und was zur Hölle war das?
Eine eingetrocknete Blutspur zierte das rechte Hosenbein.
Das gute Stück würde den trendigen Used-Look in ein ganz neues Licht rücken. Mit so einem verräterischen Unikat sollte er vielleicht besser nicht mehr auf die Straße gehen.
Folglich kramte er die Hose wieder hervor und pfefferte sie auf den Müllsack, der schon seit einer Woche im Flur herumgammelte. Er sollte dringend etwas gegen seinen Klamottenverschleiß unternehmen, wenn er nicht demnächst nackt rumlaufen wollte.
Sowohl im Büro als auch unterwegs musste er allzeit was hermachen. Im Discounter Outfit würde man ihn wohl kaum ernst nehmen. Zumal er bereits vorgab, dort zu sein, wo er irgendwann erst mal hinwollte – ganz nach oben.
Als er sich die Ärmel seines sauteuren George Roth Hemdes zuknöpfte, fielen ihm die Kratzer am Unterarm auf. Lange, feine Schnitte bildeten gerade Linien vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Es hatte sich schon eine dicke Schorfkruste gebildet, also legte er die Manschettenknöpfe bedenkenlos an.
Spätestens am Abend wäre die Haut wieder glatt wie ein Babypopo, beschwichtigte er sich selbst.
Noch einmal bemühte er sich, zum gestrigen Abend zurückzufinden, blieb jedoch erfolglos. Aus alter Routine wusste er hingegen, dass sich sein Gedächtnis schon bald erholen und ihm nach und nach die Erinnerungen preisgeben würde, die ihm fehlten. Bloß wollte er das überhaupt wissen?
Seine Erinnerungen waren wie ein zerbrochener Spiegel. Die Risse und Sprünge verzerrten das Selbstbild und an den scharfen Kanten der Scherben konnte man sich verletzen.
Nunmehr schlummerte in ihm diese innere Unruhe, welche eine böse Vorahnung auf das Geschehene sein musste.
ώώώ
Ray schwang sich in seinen rostigen 82er-Chevy und kämpfte sich durch den Verkehr. Was wollten nur all diese Menschen auf der Straße um diese Uhrzeit?
»Hat denn hier keiner einen Scheißjob?«, meckerte er in den Rückspiegel mit einer Laune, die immer steiler Richtung Keller schoss. Der sonst so kurze Weg zog sich endlos in die Länge.
»Ein Wurmloch müsste man haben«, nörgelte er weiter.
Endlich am Büro angekommen, parkte er den zerbeulten Oldtimer dieses Mal hinterm Haus und lief wieder zum Vordereingang. Dustin Baker, der versnobte Sohn vom Bankdirektor der Union gegenüber, hatte seinen nagelneuen Volvo unmittelbar vor Rays Büro abgestellt.
»Perfekt, Gott segne diesen Angeber!« Aber bloß nicht mit Geld – dieses verwöhnte Muttersöhnchen bekam so schon den Hals nicht voll.
Hektisch riss er die Tür auf und stürmte hinein. Zu seinem Glück war Dooley ebenso unpünktlich wie er selbst. Rasch kramte Ray ein paar Unterlagen zusammen, riss Patt den Kaffee aus der Hand und versuchte, cool zu bleiben, auch wenn ihm das nicht so richtig gelingen wollte.
Sein Herz pochte so laut, dass es wahrscheinlich jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Zumindest jemand mit seinem Gehör. Ihm war flau im Magen und seine Hände zitterten, obwohl sein Blut kochte. Ob das an seiner Aufregung lag oder an dem fiesen Kater, der seine Krallen in ihn geschlagen hatte, blieb zu überlegen.
»Du hast dich lange genug darauf vorbereitet, es wird schon gut gehen«, gurrte Patt ihm ins Ohr, während sie beruhigend seinen Nacken massierte.
»Was, wenn er Unmögliches verlangt, wenn er irgendwelche richtig krummen Dinger abziehen will?«
»Komm schon, jetzt mach dich nicht verrückt. Er kauft Immobilien, du vermittelst welche. Das passt wie Patricia Richmond und Manolo Blahnik .«
»Manuel wer?«
»Manolooo … ach, Männer!«, stöhnte Patt.
»Ich wollte nicht ›Arsch auf Eimer‹ sagen, okay?«
Ray kicherte.
»Pass auf Schatz, du machst deine Arbeit einfach so gut wie immer, nur dass diesmal hoffentlich andere Summen dahinterstehen«, bekräftigte sie kokett und biss sich keck auf die Lippe.
Patricia, also Patt, war ein Engel. Kurze Zeit nachdem Ray aus dem Heim für auffällige Jugendliche entlassen wurde, fand sie ihn schlafend in einer Seitengasse der Zweiundsechzigsten. Man hatte ihn an seinem 18. Geburtstag einfach vor die Tür gesetzt.
„Herzlichen Glückwunsch Ray, du bist jetzt erwachsen. Alles Gute auf deinem weiteren Lebensweg. Und bau keinen Mist Junge“, hieß es. Er hatte keine Familie, keine Freunde und auch die Stadt war ihm nach so vielen Jahren fremd geworden. So streunte er umher, ohne zu wissen, wo er hingehörte.
Tagsüber schnorrte Ray in der Mall und nachts schlief er unter Brücken oder in verwaisten Seitenstraßen. Er verkroch sich hinter Mülltonnen und Verschlägen. Der kalifornische Winter war recht mild, wenngleich ihm Kälte in der Regel nichts ausmachte.
Patt legte ihm zunächst 10 Dollar hin und ging, kehrte jedoch gleich wieder um.
„Mein Junge, das ist eine gefährliche Gegend, du solltest nach Hause gehen", riet sie ihm damals besorgt. So kamen sie ins Gespräch und Ray erzählte ihr von seiner Vergangenheit. Nie sprach er freiwillig mit anderen Menschen, doch Patt strahlte eine ganz besondere Wärme aus, dass er sich ihr vollends anvertraute. Er spürte ihre Gutmütigkeit in jeder Faser seines Körpers.
Sein Leben lang hatte er sich von fremden Menschen ferngehalten und peinlichst darauf geachtet, nichts Persönliches auszuplaudern. Und doch offenbarte er sich mit der Zeit dieser warmherzigen Frau.
Patt lebte allein und nahm ihn bei sich auf. Sie war damals selbst gerade mal Ende zwanzig und hatte ihm wahrlich damit das Leben gerettet. Sie besorgte ihm einen Aushilfsjob in der Makleragentur, in der sie als Sekretärin angestellt war, und trat ihm regelmäßig in den Hintern, damit er in die Gänge kam. Am meisten liebte er die gemeinsamen Gespräche.
Beinahe hatte er vergessen, wie man kommuniziert – hatte vergessen, wie man lacht. Emotionslos und ohne jegliche Gefühle, vegetierte er bis dato vor sich hin. Patt war der einzige Mensch, dem er vertraute und sie war auch der einzige Mensch, der sein Geheimnis kannte. Obwohl …, es gab da noch jemand anderen.
Die Tür sprang auf und ein beleibter Mann im teuren Designeranzug betrat den Raum. Er hatte die wenigen vorhandenen Haare unschön nach hinten gekämmt und roch nach einer Mischung aus Tabak und aufdringlichem Parfüm.
Dicke Schweißperlen zappelten bei jedem Schritt auf seiner Stirn und Ray wartete nur darauf, dass sie sein rundes Gesicht nieder perlen und mit einem lauten Platsch auf den Fliesen landen würden.
Okay, bei dreißig Grad im Schatten hätte sogar ein Kaiserskorpion in so einem Anzug geschwitzt.
»Memo an mich, Klimaanlage reparieren lassen!«, nuschelte Ray verhalten in seinen Dreitagebart.
Prüfend sah Dooley sich um und schüttelte angewidert den Kopf. Er fühlte sich sichtlich unwohl in dem beengten Büro. Ray und Patt waren stolz auf ihr kleines Reich, was für einen Mann wie ihn wahrscheinlich nicht mehr wert war, als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Und so perfekt manikürt konnte da keine Spur von Dreck zu finden sein.
Im Radio unterbrachen sie das Programm für eine Sondermeldung. Im Griffith Park wurde eine männliche Leiche gefunden. Dem Anschein nach war der Typ übel zugerichtet worden. Ray erschauerte unwillkürlich und auch Patt stockte kurz der Atem.
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