»Tut mir leid, mein Junge, aber du kannst dich jetzt noch nicht ausruhen«, sagte er, während er die Satteldecke und die verrutschten Gurte in Ordnung brachte. Guntrol war zwar kein besonders guter Reiter, doch vermochte er sich einigermaßen sicher im Sattel halten. Er schwang sich in den Sattel und trieb das Pferd in leichtem Galopp den Weg entlang. Das Pferd war ziemlich erschöpft, doch konnte Guntrol, so leid es ihm tat, darauf keine Rücksicht nehmen. Irgend etwas schlimmes mußte geschehen sein. Wäre das Pferd bei einer Rast ausgerissen, wären die Steigbügel hochgezogen und der Sattelgurt gelockert gewesen. Wäre der Reiter unterwegs abgeworfen worden, hätten seine Gefährten das Pferd bestimmt rasch wieder eingefangen.
Es dauerte eine Weile, bis er zu dem Ort des Geschehens vorgedrungen war. An einer Stelle, wo der Pfad sich zu einer etwas größeren baumlosen Fläche verbreiterte, die man aber noch lange nicht als Lichtung bezeichnen konnte, bot sich Guntrol ein entsetzliches Bild. Als erstes fand er einen leblosen, zerschundenen Körper auf der Erde liegen. Er hielt an und sprang vom Pferd um nach dem Unglücklichen zu sehen. Es handelte sich um einen der fremden schwarzen Reiter. Sein Schädel war eingeschlagen und blutüberströmt. Allem Anschein nach war der Mann tot. Guntrol konnte nichts mehr für ihn tun. Er stieg wieder auf und ritt weiter. Doch schon nach kaum zwanzig Metern fand er ein weiteres Opfer. An dieser Stelle mußte ein heftiger Kampf stattgefunden haben. Pfeile steckten im Bäumen und Menschenleibern. Guntrol zählte mindestens fünf Gefallene. Er stieg ab und band das Pferd an einen Baumstamm. Hinter einem Baumstrunk fand er einen der drei Ritter, die er am vergangenen Abend in der Herberge hatte kennen lernen. Auch er war tot. In seiner Hand hielt er ein blutiges Schwert. In seiner Brust steckte ein Pfeil, ein anderer hatte seinen Hals durchschlagen. Der Mann war offensichtlich verblutet. Guntrol schluckte schwer. Beim Anblick des vielen Blutes wurde ihm übel.
Was war hier geschehen? Wo war Lagrange? Lebte sein Freund noch? Über der grausigen Szenerie lag eine bleierne Stille. Das Schnauben des Pferdes und Guntrols keuchender Atem waren die einzigen Geräusche. Guntrol lief weiter. »Lagrange!« rief er laut. Seine Stimme klang, als hätte er ein Kissen vor dem Gesicht. Kein Echo, kein Widerhall war zu vernehmen. Alles wurde von den Bäumen verschluckt. »Lebt hier noch jemand?« Keiner antwortete auf sein Rufen. Er ging weiter und fand den zweiten Ritter, sowie zwei der Schwarzen. Alle waren tot. Ihre Körper wiesen Schnittwunden wie nach einem Schwertkampf auf. Atemlos lief Guntrol weiter. Vor einem großen, mannshohen Felsen lagen der Anführer der Ritter und drei erschlagene Schwarze. Die Ritter mußten sich tapfer gewehrt haben, denn sie hatten eine Vielzahl an Gegnern erledigt.
Ein leises Stöhnen ließ Guntrol aufhorchen. Es kam von der anderen Seite des Felsens. Er zog sein Handbeil aus der Gürtelschlaufe. Mit dem Beil in der Rechten und seinem Messer in der Linken umrundete er den Felsbrocken. Es war schon fast dunkel und er konnte kaum etwas sehen. Daher gewahrte er den Schatten, der ihn schräg von oben ansprang, erst als es schon zu spät war, um auszuweichen. Instinktiv hob er den Arm. Etwas schweres schlug ihm das Beil aus der Hand und traf ihn seitlich am Schädel. Vor seinen Augen explodierte eine Kugel aus tausend bunten Funken, dann raste der Erdboden auf ihn zu. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Als Guntrol wieder zu sich kam, fühlte er ein Summen im Kopf und vor seinen Augen drehte sich alles. Er hatte das Gefühl als würde er sich im Kreise drehen, doch seine Hand berührte den feuchten, kühlen Waldboden. Auf seiner Stirn lag etwas feuchtes, von dem es in seine Augen tropfte, so daß er ständig blinzeln mußte. Ein heller Fleck erschien in seinem Gesichtsfeld und bewegte sich hin und her. Guntrol kniff die Augen zusammen. Der Fleck verdichtete sich zu einem Gesicht. Doch es war zu verschwommen, um es erkennen zu können. Aber die Stimme, die ihn ansprach erkannte er sogleich.
»Guntrol! Gott sei Dank! Da bist du wieder!«
»Lagrange?« Guntrols Stimme war heiser. Sein Mund fühlte sich trocken an und seine Zunge war wie aus Leder. Er hob die Hände zum Gesicht, zog den nassen Lappen von der Stirn und rieb sich die Augen. Er versuchte, sich aufzurichten, doch Lagrange, der neben ihm am Boden kniete, drückte ihn sanft nieder.
»Bleib noch ein bißchen liegen. Du hast eine dicke Beule am Schädel.« Lagrange klang sehr erleichtert.
»Was ist passiert?« fragte Guntrol matt. Lagrange schwieg betreten. Er seufzte. Dann sagte er: »Es tut mir so leid, mein Freund. Ich habe dich mit meinem Stab niedergeschlagen. Ich dachte, du wärest einer von denen.«
»Schon gut. Nach allem, was ich gesehen habe, kann ich das verstehen.«
»Nein!« entgegnete Lagrange heftig. »Es ist nicht gut. Ich habe einen Menschen angegriffen. Ich war erfüllt von Zorn und Haß. Ich wollte töten… Ich bin nicht würdig, diesen Rock zu tragen.«
Guntrol richtete sich auf. Ein dumpfer, pochender Schmerz in seinem Kopf nahm ihm für einen Augenblick den Atem. Er griff sich an den Schädel, wo er einen feuchten, schmierigen Verband fühlte. Das feuchte, schmierige, war sein Blut, wie er mit einem Blick auf seine Finger feststellte.
»Lagrange, mach dir keine Vorwürfe. Du bist auch nur ein Mensch, und mir ist nichts weiter geschehen.« Lagrange saß mit hängendem Kopf da. Guntrol schaute sich um. Ein kleines Lagerfeuer spendete ein wenig Licht und Wärme. Neben dem Feuer lag eine leblose Gestalt am Boden. Sie war mit einer Wolldecke zugedeckt, so daß Guntrol nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte. Lagrange folgte seinem Blick und sagte: »Das ist der Herold.«
»Ist er…«
»Er lebt gerade noch, aber er ist besinnungslos. Seine Verletzungen sind so schwer, daß ich fürchte, er wird die Nacht nicht überleben. Ich kann leider kaum etwas für ihn tun. Ich bin kein Heiler und ich habe keine Arznei oder Heilkräuter dabei. Und hier im Wald wachsen auch keine.«
Guntrol setzte sich auf. Lagrange stützte ihn. Er holte eine kleine Flasche aus seinem Beutel hervor und reichte sie Guntrol. »Hier trink einen Schluck! Dann geht es dir besser.« Guntrol entkorkte die Flasche und nahm einen Schluck daraus. Es schmeckte scharf und bitter. Er verzog das Gesicht und unterdrückte einen aufkommenden Hustenreiz. »Das Zeug muß sehr gesund sein, so scheußlich wie das schmeckt«, sagte er. Nachdem der bittere Geschmack verflogen war, merkte er, wie ihn ein wohliges Wärmegefühl durchströmte. »Was ist das für ein Zeug?« Er nahm noch einen Schluck und gab die Flasche Lagrange zurück.
»Das ist ein Extrakt aus verschiedenen Heilkräutern. Es ist ein ausgezeichnetes Stärkungsmittel; es hilft bei Magenschmerzen, Fieber und äußerlich angewendet gegen Verstauchungen und Geschwulste.«
»Der Hauptbestandteil scheint mir Weingeist zu sein«, meinte Guntrol.
»Ja, hauptsächlich«, sagte Lagrange ein wenig abwesend. Er stand auf und ging zu dem verwundeten Herold, der noch immer regungslos da lag.
Guntrol zog sich an dem Felsen hoch, bis er, noch sehr wackelig, auf den Beinen stand.
»Paß auf! Ich habe einen Bannkreis errichtet. Tritt nicht über die Linien«, sagte Lagrange. Guntrol kniff die Augen zusammen. Er mußte schon genau hinschauen, dann konnte er aber am Boden eine dünne weiße Linie erkennen, die einen Kreis von ungefähr zehn Metern um ihr Lager beschrieb. In regelmäßigen Abständen waren Symbole, deren Bedeutung Guntrol gänzlich unbekannt war, in die Erde geritzt
»Wofür soll das denn gut sein?« fragte er. Bevor Lagrange ihm antworten konnte, erscholl aus der Tiefe des Waldes ein unheimlicher Schrei, der nichts menschliches an sich hatte. Guntrol konnte dieses Geräusch keinem ihm bekannten Tiere zuordnen. Und die Tatsache, daß der Schrei in ebenso unheimlicher Weise erwidert wurde, war ebenfalls nicht gerade dazu angetan, seine Zuversicht zu steigern.
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