«Sie sagen also, hier habe sich ein Mord zugetragen?», fragte Hauptmann von Rotz mit kritischem Unterton in der Stimme.
«Woher wissen Sie das? Was haben Sie für Beweise?», doppelte Zgraggen um einiges forscher nach.
«Sie sagen, Sie seien Polizist, dann zeigen Sie doch bitte Ihren Ausweis!», mischte sich auch der Dritte im Bunde, der Brändli Joseph, definitiv unhöflich ein.
Weinzäpfli betrachtete sie abwechslungsweise. Drei Fragen aufs Mal, Kollege Chummer hätte sich geärgert. Damit konnte man ihn auf die Palme bringen. Weil Weinzäpfli nicht sofort antwortete, meldete sich der OL-Läufer an seiner Stelle zu Wort: «Ich weiss zwar nicht, ob er wirklich ein Hauptkommissar ist, und zwar vor allem deshalb nicht, weil ich nicht weiss, was ein Hauptkommissar sein soll, aber ich kann zumindest bestätigen, dass er in einem Bus voller Polizisten mitreiste. Ich sah es mit meinen eigenen Maulwurfsaugen.»
Nahezu zeitgleich schwenkten alle Blicke in die Richtung des schrulligen Mannes, der zusammen mit Weinzäpfli aus dem Wald gestürchlet war.
«Und wer sind Sie? Auch ein Polizist? Bernerisch tönen Sie mir auf alle Fälle nicht. Sie baslern», herrschte ihn Zgraggen an.
«Das ist …», begann Weinzäpfli, unterbrach sich selbst und sagte zum OL-Läufer: «Ich kenne Ihren Namen gar nicht.»
Der Angesprochene gluckste erheitert.
«Ich bin der Markus, aber meine Freunde nennen mich Kusi, Küse, Kusic oder manchmal auch Eveline.»
Die Polizisten betrachteten den Orientierungsläufer mit den vielfältigen Übernamen ungläubig.
«Weshalb denn Kusic? Das verstehe ich nicht», wollte Weinzäpfli wissen und der OL-Läufer erklärte: «Meine Freunde sagen, ich hätte die Gesichtszüge eines Jugoslawen, weshalb sie sich einen Spass daraus machen, meinen Vornamen zu slawisieren.»
«Nicht annähernd …», konstatierte von Rotz umgehend.
«Und warum denn Eveline in Gottes Namen?», fragte Zgraggen. Auf diese Frage konnte der OL-Läufer keine Antwort mehr geben, denn Dr. med. dent. Joseph Brändli hatte endgültig genug. Er verliess sein Territorium, trat direkt an Weinzäpfli heran, fixierte ihn mit scharfem Blick und stellte ein zweites Mal die einzige Frage, die in diesem Moment relevant war.
«Woher wollen Sie wissen, dass wir es hier mit einem Mord und nicht mit einem Unfall zu tun haben?»
Weinzäpflis Gesicht verriet, dass er nachdachte. Wer ihn kannte, wusste, dass nun nicht nachvollziehbare Prozesse in Gang gesetzt wurden, die weit unter der Bewusstseinsschwelle abliefen und die in ihrer Mechanik die gesamte menschliche Evolutionsgeschichte beinhalteten. Er wartete einige Momente, liess die Gedanken naadisnaa in seinen Geist sickern und sprach sie dann mit lauter Stimme aus: «Unfälle sind das, was das Wort bereits besagt. Un-Fälle, Nicht-Fälle, Fälle, die keine sind. Fälle, die nichts erzählen, sondern lediglich natürliche Umstände resümieren. Unfälle sind Gegebenheiten, die nichts sind als blosse Zufälligkeiten, abgeschlossene Kapitel, zwar häufig bedauernswert, aber letztlich nicht würdig, dass man sich ihretwegen den Kopf zerbricht. Das hier …» Weinzäpfli blickte auf die Wiese. «Das hier hat nichts von einem Unfall. Die Leiche erzählt eine Geschichte, wobei es nicht natürliche Umstände sind, von denen sie berichtet. Es steckt mehr dahinter … etwas, das dem Fall Sinnhaftigkeit verleiht und ihn über die blosse Existenz eines Un-Falles erhebt. Diese Leiche ist ein Mysterium, das verstanden werden will.» Der Reihe nach zeigte Weinzäpfli auf die Polizisten: «Und Sie hat das Schicksal zusammengeführt …» Er brach den Satz ab und korrigierte: « Uns hat das Schicksal zusammengeführt, dieses Mysterium zu deuten, denn das sind wir Kriminalpolizisten letztlich, liebe Kollegen, Deuter.»
Von Rotz, Zgraggen und Brändli zuckten zusammen, als der Berner «uns» sagte und mit diesem unscheinbaren Wort einen Bund aus ihnen machte. In ihren Gesichtern erblickte Weinzäpfli eine Mischung aus Skepsis, Abneigung, Furcht, aber auch eine Portion Neugierde. Alle Ingredienzien in unterschiedlicher Intensität allerdings. Brändli liess nicht locker.
«Sie können aber keine Beweise dafür nennen, was Sie da behaupten?»
Weinzäpfli schüttelte den Kopf.
«Nein, das kann ich nicht», gestand er und führte aus: «Ich kann keinen Beweis dafür erbringen, dass wir es tatsächlich mit einem Mord zu tun haben, da haben Sie recht. Aber ich kann einen Beweis dafür erbringen, dass es eine Geschichte ist, die hier erzählt wird. Und keine zufällige Gegebenheit.»
Kommentarlos führte er die Karawane durch das hohe Gras zum Arm der Leiche, der im Territorium des Zuger Kollegen lag. Die Spannung stieg, die Kriminalbeamten tauschten besorgte Blicke. Hatten sie etwas übersehen, was diesem seltsamen Fremden aufgefallen war, der von sich behauptete, ein Hauptkommissar zu sein, obwohl es diesen Rang in der Schweiz gar nicht gab?
«Der Lokomotivführer berichtete, der Zug habe die Person etwa um neun Uhr dreissig überrollt, nicht wahr?», fragte Weinzäpfli.
«Das ist korrekt», bestätigte von Rotz sofort. Mit einer flinken Handbewegung löste Weinzäpfli die flach gedrückte Alpina-Uhr vom Handgelenk, ergriff das Lederband und hielt den anderen das Zifferblatt unter die Nase. Die Uhr war zwar defekt, die Zeiger auf dem Zifferblatt aber noch gut erkennbar. Und im Moment, in dem die Kriminalpolizisten die Zeiger sahen, klappten ihnen im Kollektiv die Unterkiefer in die Tiefe. Die Zeiger der Alpina standen auf Viertel nach drei Uhr.
Sidler übernahm kurzerhand die Rolle des Touristenführers. Beim beeindruckenden, zugleich aber auch beelendenden Rundgang durch die Glashütte ermöglichte er Friedli einerseits Einblicke in die beinharte Büez, die die Glasproduktion den Arbeitern abverlangte, andererseits lernte Friedli futuristische Maschinen kennen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Besonders die beiden Wannen und die vollautomatische Glasblasmaschine weckten seine Neugierde. Es waren wahrhaftige Wunderwerke der menschlichen Zivilisation, von denen kaum mehr nachzuvollziehen war, wie sie verrichteten, was sie verrichteten. Und erst recht nicht, wie sie es derart effizient taten. Selbst wenn die Maschinen um einiges hässlicher und erheblich weniger monumental waren als beispielsweise die Pyramiden in Gizeh, waren ihre Auswirkungen auf die Menschheit um ein Vielfaches potenter. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die Maschinen in Küssnacht am Rigi und nicht in Paris, London oder Moskau standen. Wie sie Friedli so anschaute, war er sich sicher, dass sie erst die Vorboten von etwas viel Grösserem waren. Diese Maschinen bedurften immer noch menschlicher Arbeitskraft. Wenn man die Entwicklung aber weiterdachte, war es absehbar, dass der Mensch in der Glasproduktion gänzlich überflüssig werden würde. Vielleicht sogar in der Produktion ganz allgemein. Bei diesem Gedanken wurde ihm schwindlig.
Sidler fiel auf, wie genau Friedli die Maschinen musterte und erklärte ihm, dass man die kleine und die grosse Wanne 1943 und 1946 elektrifiziert habe und in ihnen seither Halbweissglas von ausgezeichneter Qualität produziert werde. Dieser Schritt habe nicht nur neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch zu einer unfassbaren Produktivitätssteigerung und somit zu Wohlstand für die ganze Region geführt.
Friedli nickte zwar anerkennend, war aber erstaunt darüber, dass der Sidler die Kehrseite der Medaille verschwieg. Darüber, dass in der Glashütte die nahezu totale Entfremdung der Arbeiter von ihrem Schaffen und von den Produkten, die sie mit ihrem Schweiss hervorbrachten, vonstattengegangen war, verlor Sidler kein Wort. In früheren Zeiten war die Arbeit auch hart und unangenehm gewesen, das war Friedli sehr wohl bewusst. Aber man war immerhin mit der Arbeit verbunden gewesen. Durch sie hatte man sich die Welt geschaffen, die man sich erwünscht hatte, und dieses Ziel hatte den Qualen der Arbeit Sinn verliehen. Ein solches Ziel hatten die Arbeiter in der Fabrik nicht. Sie waren keine Meister mehr. Sie waren austauschbare Rädchen in einem gewaltigen Getriebe, von dem sie manchmal nicht einmal mehr wussten, was genau es herstellte.
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