Und wieso hatte sie nicht angerufen, um überhaupt zu fragen, ob ich Zeit habe, mich mit ihr zu treffen? Mich angerufen und nicht erreicht, hatte sie nicht, das hätte ich auf dem Telefondisplay gesehen.
Egal wie toll der Sonntag gewesen war, konnte die Frau doch nicht vergessen haben, was vor sechs Jahren passiert war. Und jetzt schickte sie wieder eine E-Mail, wo doch ein Anruf viel sinnvoller und kommunikativer gewesen wäre.
Nach dem Motto:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, ich bin am Wochenende wieder in Lübeck, wollen wir uns treffen?“
Oder:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, würde am Wochenende gerne zu dir kommen. Wollen wir was unternehmen? Müsste aber auch bei dir übernachten können.“
Aber anstatt zu telefonieren, einfach eine E-Mail, bei der man nicht einmal genug Zeit hat zu reagieren. Auch wenn Carola die E-Mail schon am Sonntag geschrieben hat, wusste sie doch nicht, wie oft ich in mein E-Mail Postfach schaue. Hatte Carola aus dem Desaster von vor sechs Jahren, das damals so heftig gewesen war, dass sie es nicht vergessen haben konnte, denn nichts gelernt?
Ein bisschen dämmerte mir der E-Mail Streit ins Gedächtnis, der sich vor sechs Jahren abgespielt hatte.
Damals hatte sie, obwohl ich persönlich und telefonisch erreichbar gewesen war, eine E-Mail an meine Firmenadresse geschrieben. Nun hatte sie, das war immerhin schon ein Fortschritt, an meine Privatadresse eine E-Mail geschickt. Aber sich per Mail selbst einzuladen, ohne zu wissen, ob man Zeit hat. Und wo will sie übernachten? Doch nicht etwa bei mir. Wir hatten uns, auch wenn der Sonntag wirklich toll gewesen war, nachts kühl mit einem Handschlag verabschiedet. Und überhaupt verabredet man sich doch nicht einfach so per E-Mail, sodass man nicht einmal rechtzeitig antworten kann, ob man überhaupt Zeit hat, und wie der Abend gestaltet werden soll. Zumindest tut man doch wohl so etwas nicht, wenn man sich im Grunde nicht kennt und keine Verbindung miteinander hat, wenn man einmal von dem E-Mail-Intermezzo von damals absah.
Will sie wirklich hier übernachten, ohne zu fragen, ob es mir passt? Was sollte ich tun? Anrufen? Ich hatte keine Telefonnummer. E-Mail? Wer weiß, ob sie die noch liest, bevor sie los fährt. Vielleicht ist sie ja sogar schon auf der Autobahn. Und selbst wenn sie die E-Mail rechtzeitig lesen würde, wann sollte sie dann antworten, um auf meine Absage, oder auf meine Frage, wie sie sich das Treffen vorstellt, wiederum per E-Mail zu reagieren? Immerhin war tolles Wetter. Ich wollte eigentlich nicht den ganzen Tag in der Bude hocken und auf einen Anruf von ihr warten.
Wollte sie mir die Möglichkeit nehmen, die Sache zu stornieren? Nach dem Motto: Hätte ich angerufen, hätte er vielleicht „nein“ gesagt. Wenn ich erst einmal vor der Tür stehe, wird er mich schon nicht rausschmeißen.
Ist das ihre Methode mit Situationen umzugehen, bei der man auf Zusagen von andern angewiesen ist? Einfach ein „Nein“ zu umgehen, in dem man gar nicht erst fragt, sondern einfach vollendete Tatsachen schafft?
Und auch nach dem Sonntagabend, bzw. der halben Nacht auf dem Schiffsanlegesteg, war immer noch nicht klar, wieso Carola am Samstagnachmittag so nervös gewesen war, dass sie um 14:00 Uhr schon ein Starkbier hatte trinken müssen, und wieso sie fast das ganze Wochenende mit mir zusammen verbracht hat, ohne mir zu sagen, warum sie so nervös gewesen war. Wenn es wegen ihres Verhaltens von damals gewesen war, hätte sie es ja, bei unserem gemeinsamen Spaziergang, oder abends auf dem Schiffsanleger aus der Welt schaffen können. Oder war da noch etwas anderes gewesen, weswegen sie an der alten Sache nicht rühren wollte?
Egal ob am Strand oder abends auf dem Schiffsanleger. Wir hatten wunderbar miteinander geplaudert. Sie hatte von Peters Geburtstagsfeier gesprochen, von ihren Plänen in Hannover. Ich von meinen Plänen in Schweden. Und da wir alleine schon fast vier Stunden auf dem Steg gesessen hatten, mussten wir auch noch über andere Dinge gequatscht haben. Über was weiß ich nicht mehr. Aber es war nicht, nicht einmal andeutungsweise, zu einem Gespräch über eine nähere engere Beziehung zwischen uns beiden gekommen. Und Hände halten, gegenseitiges Anlehnen oder sonstige Annäherungsversuche, hatten wir auf dem Schiffsanleger auch nicht, nicht einmal andeutungsweise durchgeführt. Und nun heißt es plötzlich „bin gleich da“.
Ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Und ich hatte keine Ahnung, was ich wollte, und wie ich damit umgehen sollte.
Das, was da als Antwort auf meine E-Mail gekommen war, wollte ich auf jeden Fall nicht. Zumindest nicht so. Hätte sie angerufen, hätte ich eine Wahl gehabt. Das wäre fair gewesen, und man hätte sich absprechen können. Immerhin darf man auch nicht unsere, nicht gerade harmonische Vorgeschichte vergessen. Oder gehörte das auch dazu? Alte Differenzen werden einfach unter den Tisch gekehrt. Man tat einfach so, als ob nie etwas geschehen war.
Aber ich konnte es nicht leugnen. Trotz der Fragezeichen, trotz der nicht geraden positiven Erfahrung in der Vergangenheit, hatte ich Herzklopfen. Also konnte ich mir auch das Grübeln sparen. Irgendwann würde heute spät abends Carola bei mir aufschlagen. Dann würden wir weiter sehen. Ändern konnte ich daran sowieso jetzt nichts mehr. Es sei denn, ich lösche alle Lichter, tue so, als ob ich ihre E-Mail noch nicht gelesen habe, und ich, da der Abend anders verplant, nicht zu Hause bin. Aber das wäre albern gewesen.
Ich räumte also notdürftig die Wohnung auf und setzte mich dann an meinen Computer, um mein Schwedisch weiter zu verbessern. Zuerst mit Kopfhörer, da damit die Sprache unverfälschter ins Ohr dringen konnte, ab 21:30 Uhr in natura, damit ich nicht aus Versehen die Wohnungstürklingel überhören würde.
Äußerlich völlig locker, schaute ich doch mindestens alle fünf Minuten auf die Uhr, und als 22:00 Uhr vorbeiging, wohl sogar noch öfters.
Gegen 22:30 bimmelte die Wohnungsklingel.
Ich druckte auf den Summer und lauschte durch das Treppenhaus, ob die Haustür unten aufgeht, und ging, als ich das Klacken der Haustür vernommen hatte, wieder ins Wohnzimmer an meinen Computer, während ich die Wohnungstür angelehnt offen ließ. Carola wusste ja noch vom vorletzten Wochenende, in welcher Wohnung ich wohnte, und auch wenn ich mich freute, war ich mir nicht klar darüber, was ich von der ganzen Sache halten sollte und wollte sie etwas distanziert, und nicht gleich freudestrahlend an der Tür, begrüßen.
Carola kam mit einem großen Wanderrucksack auf dem Rücken in die Wohnung. Der Rucksack schien ziemlich voll zu sein. Das sah zumindest schon einmal nicht so aus, als ob sie nur hier wäre, um mich zu einem Kneipenbummel abzuholen.
„Guten Abend, Hallo da bin ich.“
„Das merk ich. Was machst du denn schon wieder in Lübeck?“
Eine blöde Begrüßung, aber auch ich hatte mal das Recht nervös zu sein. Und dieses Gefühl hatte ich nicht, wie Carola vorletztes Wochenende am Samstag, mit Starkbier leicht betäubt. Zumindest grinste ich sie dabei, sodass es aussah, als ob ich mich über ihr Erscheinen freute, an.
„Ich wollte unbedingt hier herkommen. Im Moment kann ich sowieso in Hannover nichts machen.“
„Warum wolltest du denn unbedingt nach Lübeck?“
Carola zuckte mit ihren Schultern. „Nur so.“ Und lachte mich etwas verlegen an. Dabei stellte sie den Rucksack, der zwar voll, aber nicht unbedingt sehr schwer schien, ab.
Vielleicht hätte ich doch vorher zwei Flaschen Starkbier oder eine halbe Flasche Rotwein trinken sollen.
In irgendwelcher Weise, wie weiß ich heute gar nicht mehr, beschnupperten wir uns irgendwie. Carola war wie ich nervös, das merkte ich ihr an. Es schien Carola durchaus klar zu sein, dass ihre Selbsteinladung ohne Bestätigungsformular nicht ganz in Ordnung war. Und sie schien sich zu fragen, ob sie wirklich, immerhin sogar mit vollem Rucksack, willkommen war.
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