1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Bei allem Herzklopfen mischte sich doch auch ein bisschen Schadenfreude mit in meine Gefühlswelt hinein. Das hatte sie sich selbst eingebrockt. Das kommt davon, wenn man statt anzurufen eine E-Mail schickt, um eine Absage zu verhindern.
Zumindest schien uns beiden klar zu sein, dass die Situation nicht ganz normal war, und keiner von uns beiden so richtig wusste, wie es jetzt weiter gehen sollte. Wobei ich eindeutig den moralischen Vorteil hatte, diese Situation so nicht heraufbeschworen zu haben. War auch irgendwie fair, immerhin hatte sie sich die Sache eingebrockt. Eigentlich hätte sie sich so etwas bereits denken können, als sie die E-Mail auf den Weg gebracht hatte.
Endlich machte Carola den Vorschlag, einen Spaziergang durch die nächtliche Altstadt zu machen, da sie mehrere Stunden in ihrem Auto gesessen hatte, und ihr nach etwas Bewegung war. Dagegen war nichts einzuwenden, da die Temperaturen sich in den letzten acht Tagen nicht verringert hatten, und im Freien wenigstens noch ein schwaches Lüftchen wehte.
Ich war erleichtert, dass eine Richtung vorgegeben war, und die Situation sich dadurch erst einmal entspannte.
Ich schaltete sofort meinen Computer aus, und wir gingen mit zwei Flaschen Multivitaminsaft nach draußen und schlenderten durch die Altstadt. Die Luft hatte noch immer, obwohl es schon fast 23 Uhr spät war, mindestens 25°C. Am Mühlenteich setzten wir uns auf eine Bank und schauten über den Teich in Richtung Mühlenstraße, auf der um diese Zeit nur noch schwacher Autoverkehr, den man zwar sehen, aber nicht hören konnte, herrschte. Der Dom von Lübeck, links von uns, durch starke Lichtstrahler angestrahlt, spiegelte sich vor uns im dunklen, spiegelglatten Mühlenteich. Ein paar Schritte von uns entfernt, schliefen ein paar Enten auf dem Rasen am Ufer, und ließen sich von uns nicht stören. Die Stimmung war ruhig, still, romantisch, nervös, gespannt, und ????? Keine Ahnung, wie man sie sonst noch nennen könnte. Zumindest hatten wir auf dem Weg zum Mühlenteich kaum gesprochen. Und selbst wenn man mich unter Folter setzen würde, ich wüsste heute nicht mehr, über was wir dort auf der Bank geredet haben, und ob wir viel oder wenig miteinander geredet haben, während wir dort auf der Bank saßen. Aber, wenn man einmal davon absah, dass ich mich fragte, wie es weiter gehen sollte, immerhin stand bei mir zu Hause noch ein voller Rucksack, der nicht mir gehörte, herum, war es ein toller Abend, bzw. da schon fast Mitternacht, eine tolle Nacht.
Nachdem wir am Mühlenteich eine ganze Weile auf der Bank gesessen hatten, gingen wir auf dem Mühlendamm, auf dem im Mittelalter die städtischen Mühlen gestanden hatten, in Richtung der Wallstraße. Von dort ging es durch das Kaisertor aus dem 13. Jahrhundert, das in die Wallanlagen aus dem 16. und 17. Jahrhundert eingebunden war, hinab zum Elbe-Lübeck-Kanal, der hinter den Wallanlagen, ein paar Treppenstufen abwärts, lag. Der Fußweg durch den Einschnitt der alten Wallanlagen war stockdunkel. Keine Laterne leuchtete den Weg aus, und auch der Mond wurde von den Bäumen verdeckt. Durch das Kaisertor ging es noch relativ gut. Aber die grob gehauenen Felssteine, die hinter dem Tor als Treppe zum Spazierweg an dem Kanal führten, waren nur zu erahnen, und man konnte leicht stolpern. Und im Dunkeln sah man nicht, wohin man fallen würde.
Carola zögerte und wäre wohl am liebsten umgedreht, sagte aber nichts, während ich vorging und versuchte sie so gut es ging zu führen. Ohne Unfall schafften wir es durch diese hohle Gasse, zum Fußweg am Kanal zu kommen, dessen Verlauf, vom Mond und dessen Spiegelung auf dem Wasser, so gut ausgeleuchtet war, dass wir ohne Gefahr zu meiner Wohnung zurückgehen konnten.
Bei mir zu Hause wartete immer noch der Rucksack, von dessen Anwesenheitsgrund Carola immer noch nichts erzählt hatte. Und es war auch inzwischen ca. ein Uhr morgens. Irgendwo am Kanal zelten wollte sie sicher nicht.
Empfand Carola es als selbstverständlich, dass sie bei mir übernachten konnte, oder scheute sie, wie schon vor sechs Jahren, eine direkte Konfrontation? Bei dem Gedanken, wie Carola vor sechs Jahren reagiert hatte, fing erneut die Alarmglocke in meinem Kopf leicht an zu bimmeln. Aber nur ganz leise, sodass ich sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr hörte.
Ohne dass wir noch über irgendetwas gestolpert waren, schafften wir es heil wieder zu mir nach Hause.
„Wo kann ich denn schlafen? Ist noch Platz in deinem Bett?“
Und da war sie, die Frage aller Fragen. Wobei Carola nicht fragte, ob sie überhaupt bei mir schlafen konnte. Das hatte sie, ohne zu fragen, wie auch überhaupt ihre Einladung, schon für sich geklärt. Es drehte sich nur noch um die Frage wo.
„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.“
Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht so ganz gelogen. Eigentlich hatte ich mir ja eher gefragt, wo sie in Lübeck überhaupt übernachten wollte. Meine Wohnung vermutete ich da, wenn denn überhaupt, nur als eine Option von mehreren (sie hatte doch wohl sicher einen Plan B). Aber sollte sie sich für meine Wohnung entscheiden, hatte ich mir über die Details noch keinen Kopf gemacht. Eigentlich war ich auch immer noch der Meinung, dass man jemanden vorher fragt, zumindest wenn man kein Partnerverhältnis hat und eine durch Missverständnisse geprägte, gemeinsame Vergangenheit, ob man bei jemandem übernachten darf. Auch wenn wir uns vorletztes Wochenende wirklich gut verstanden hatten, gehörte ich nun einmal nicht, auch nur annähernd zu ihrem Freundeskreis. Und das auch am vorletzten Wochenende nicht angesprochen Thema, „was war im Jahr 2000 los gewesen“, was mich damals immerhin bei Carola zu einer „Persona non grata“ abgestempelt hat, hing, zumindest bei mir, wie vor langer Zeit ein Schwert über Damokles, über meiner Gefühlswelt. Carola konnte das doch nicht vergessen haben, was damals geschehen war.
Ein paar Tage später gab Carola dann zu, dass sie für die Nacht keinen Plan B gehabt hatte. Wäre ich nicht zu Hause gewesen, hätte sie, gegen 22:30 Uhr bei mir vor verschlossener Tür stehend, herum telefoniert, ob sie noch wo anders hätte unterkommen können. Hätte sie kein Schlafplatz gefunden, wäre sie wieder Richtung Hannover gefahren, oder hätte einfach in ihrem Wagen übernachtet.
Hannover-Lübeck-Hannover, das war mehr als 400 km. Fast eine ganze Tankfüllung nur auf Verdacht. Und ich wusste, dass Carola im Grunde pleite war, solange die Praxis nicht lief, sie jeden Cent dreimal umdrehen musste. Im Zeitalter der modernen Kommunikation, das soll heißen, im Zeitalter des Telefons, hätte mir, erst recht nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Carola, das zu denken geben sollen. Tat es zwar auch etwas, aber leider nicht genug.
Mit meinem heutigen Wissen ist mir klar, dass Carola einfach in der stillen Erwartung losgefahren war, dass es zu keinen Problemen oder Konflikten, wegen ihres Aufschlagens in Lübeck, kommen würde. Es musste so kommen, wie sie es sich in ihrer Traumwelt, heute würde ich es Parallelwelt nennen, gewünscht hatte. Hätte sie nur andeutungsweise von meinen Zweifeln gewusst, wäre sie schon alleine deshalb nie losgefahren, weil sie sich in Lübeck einem Problem hätte stellen müssen. Sie hätte aber auch nicht, wenn sie von meinen Zweifeln eine Ahnung gehabt hätte, angerufen, um zu klären, ob ich wirklich Zweifel habe, und sie diese eventuell durch den Anruf hätte ausräumen können. Das hätte nämlich bedeutet, sich mit einem persönlichen Konflikt zu beschäftigen; vielleicht sogar einem anderen gegenüber einen Wunsch, und damit eine Schwäche zu zeigen. Und so etwas konnte Carola nicht, was ich damals aber nicht wusste. Obwohl, meine Erfahrungen aus dem Jahr 2000, wie Carola mit Konflikten umgeht, hätte mir zu denken geben sollen.
Hätte - eigentlich.
„Wenn du nicht möchtest, dass ich in deinem Bett schlafe, kann ich auch im Wohnzimmer auf dem Sofa oder dem Fußboden schlafen.“
Читать дальше