Trotz meines insgesamt eher negativ aufgewühlten Gemütszustandes, kam ich nicht umher, die Schönheit dieser Stadt zu bewundern. Venedig ist einzigartig, daran gibt es keinen Zweifel. Ich
erinnere mich an dieses Viertel. Damals vor vielen Jahren an Silvester befand sich mein Hotel ebenfalls in Cannaregio, nahe dem jüdischen Ghetto. Dort wo jetzt auch meine Wohnung sein würde. Die Erinnerungen meiner Kindheit und meiner Jugend begannen sich mit diesen frischen Momenten zu vermischen. Sie wurden überlagert von einem neuen Geschmack, der damit einherging, dass ich diese Stadt nun nicht wie ein Tourist betrachtete, sondern wie jemand, der für ein paar Wochen sein neues zu Hause hier vorfinden würde. Es war ein wenig seltsam. Wie zwei verschiedene Bilder, die nicht ganz zueinanderpassen wollten.
Meine Wohnung liegt direkt am Kanal, im Erdgeschoss. Ich mache die Haustür auf und ich sehe Boote an mir vorbeifahren. Außerdem liegt sie wohl in einer der zwei Gegenden, wo abends noch etwas los ist. In meiner Straße reihen sich Bars und Restaurants aneinander, Cafés und kleine Läden. Ich höre die Menschen anstoßen. Gläser klirren. Gelächter weht zu mir herüber. Es hört sich teilweise an, als stünden sie direkt in meinem Wohnzimmer. Ich denke, daran werde ich mich mit der Zeit gewöhnen. Sie stehen auch direkt vor meinen Fenstern und meiner Tür. Wenn ich die Haustüre öffne, fällt mir glatt einer hinein. Immerhin habe ich Gitter vor den Fenstern. Ansonsten mag ich meine Wohnung sehr. Sie ist hübsch eingerichtet, fühlt sich an wie ein Heim. Sie ist mit allem ausgestattet, was mir einige Kilos erspart hätte, hätte ich das vorher gewusst. Ich habe einen Fernseher, der englische Sender zeigt, ein Doppelbett und einen kleinen Garten nach hinten raus. Schade, dass kein Sommer mehr ist.
Jeden Tag kommt das Müllboot. Ich musste den Zettel zweimal lesen. So etwas Skurriles hatte ich selten gehört. Aber natürlich gibt es das Müllboot. Da die Venezianer Wert auf akkurate Mülltrennung legen, nimmt es nicht jeden Tag dasselbe mit. Bis auf den regulären Hausmüll steht jedem Müll ein anderer Tag zu. Ich darf mir nun aussuchen, ob ich zwischen sechs und acht Uhr in der Früh für den Müll aufstehe, oder ob ich warte, bis der Müllmann bei mir klingelt, um sich den Müll persönlich abzuholen. Wer hat denn so etwas schon einmal gehört? Woher will der Müllmann überhaupt wissen, ob ich meinen Müll nicht schon um sechs rausgebracht habe? Außerdem bringe ich in der Regel nicht jeden Tag meinen Abfall weg… Das venezianische Leben ist interessant, keine Frage.
Meine Vermieterin wohnt über mir. Viel kann ich zu ihr nicht sagen, wir erinnern uns, ich habe so gut wie nichts von dem verstanden, was sie zu mir gesagt hat. Sie ist eine ältere, leicht gebückt gehende Dame mit einem dunkelgrauen Lockenschopf auf dem Kopf. Auf ihrer Nase sitzt eine schiefe Nickelbrille an einer Goldkette. Sie ist ungefähr eineinhalb bis zwei Köpfe kleiner als ich und hat eine Neigung dazu, den linken Zeigefinger nach oben zu recken, als würde alles, was sie von sich gibt, dazu dienen, einen zu belehren. Oder als würde sie jedes einzelne ihrer Worte betonen wollen. Sie trug ein Wollkleid, als sie mich empfangen hatte, mit Stützstrümpfen und etwas, das ich als Gesundheitsschuh bezeichnen würde, während meine Mutter „bequemer Schuh“ dazu gesagt hätte.
…Ich fühle mich rastlos. Vielleicht auch etwas verloren. Ich sollte gerade meinen Traum leben, stattdessen weiß ich nicht, was ich hier eigentlich tue. „Abhauen“ ist schön, aber gleichzeitig macht das Reisen nur Spaß, wenn man ein zu Hause hat, zu dem man zurückkehren kann. In meinem Kopf sehe ich all die gemütlichen Momente vor mir, im Bett, auf der Couch; unser Lachen. Ich rieche den köstlichen Duft eines frisch gekochten Currys in unserer Küche. Ich sehne mich danach, über schlechte Fernsehprogramme zu lästern. Wie baut man sich überhaupt einen Alltag in einem anderen Land auf?
Aber es spielt keine Rolle. Ich kann nicht zurückgehen. Denn zu Hause und mein altes Leben existieren nicht mehr. Egal wo ich bin, ich habe keinen Alltag. Also kann ich genauso gut hier anfangen mir wieder einen aufzubauen.
Über Weihnachten soll ich schreiben. Wie ich schon sagte, das Leben ist komisch. Ich glaube nicht an Weihnachten mit all seinem glitzernden Firlefanz. Weihnachten ist meistens stressig, teuer und so schnell vorbei, dass man es gar nicht richtig mitbekommt. Und am Ende ist man um lauter Dinge reicher, mit denen man nichts anfangen kann, die man aber, wenn es blöd kommt, aus Höflichkeit auch nicht entsorgen kann. Die Hosen passen einem nicht mehr und zu allem Überfluss steht Silvester schon vor der Tür, wo der ganze Stress weitergeht und sich jeder am besten gleich eine ganze Weinflasche alleine genehmigt, denn der Jahresrückblick fällt meistens nicht recht positiv aus. Was soll daran wunderbar sein?
Henry hätte es wunderbar gefunden. Er hätte den Zauber gesehen. Und er hätte ein weiteres Mal versucht, mich ebenfalls zu verzaubern. Ob er es wohl jemals aufgegeben hätte?
Hätte ich noch eine Chance, diesmal würde ich es zulassen. Ihn nicht auslachen und genervt abwimmeln.
Auf einmal wünsche ich mir so sehr, diesen Funken zu sehen, den er immer gesehen hat. Vielleicht wäre er mir dann näher. Aber ich kann es nicht. Der Funke ist fort, wie auch Henry fort ist. Und ich bin ganz alleine in Venedig. - Irgendwie auch fort.
Nora

Liebes Tagebuch,
mein zweiter Tag in Venedig und mein erster Weg führten mich nicht zu den typischen Hotspots
– nein, ich war wirklich nicht als Erstes am Markusplatz – sondern zurück Richtung Bahnhof Santa Lucia, ein Stück weiter über die große Ponte della Costituzione nach Piazzale Roma, dem Ort, von wo aus Busse nach Mestre und aus Venedig heraus fahren. Die Ponte della Costituzione ist die vierte Brücke, die den Canale Grande überspannt und passt mit ihrem gläsernen und stählernen futuristischem Aussehen so gar nicht in Venedigs altehrwürdige Fassade. Aber da mein Handy über Nacht leider nicht wieder aufgetaucht war, musste ich als Erstes dieses Problem beheben.
Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn ich ohne weitere Schwierigkeiten im Nave de Vero, dem Einkaufszentrum in Mestre angekommen wäre. Leider haben die italienischen Busse die Angewohnheit, nicht an jeder Haltestelle zu stoppen, geschweige denn diese überhaupt anzusagen. Natürlich bin ich zu weit gefahren. Und ohne Google Maps bedeutet das im Klartext, ich war einmal mehr hoffnungslos verloren. Mit meinem gedrucksten, selbstbeigebrachten Italienisch versuchte ich mir den Weg zu erfragen. Nach der dritten Person beschloss ich, mich nach Italienischkursen zu erkundigen.
Tatsächlich wurde ich später zu Hause fündig. Es gibt einen vierwöchigen Intensivkurs vor Weihnachten. Zwar hat er schon angefangen, aber es kann nicht schaden, trotzdem anzufragen. Es wäre
sicher nicht unpraktisch für meinen kurzen Aufenthalt und meine Recherche wenigstens ein paar Grundkenntnisse zu besitzen. Die zwei Stunden am Tag würde ich sicher aufbringen können.
Zurück in Mestre bin ich nach zwei Stunden
Herumgeirre doch noch im Nave de Vero angekommen (weder das Kaufhaus, noch meine unfreiwillige Erkundungstour haben meinen ersten Eindruck von Mestre revidiert). Und auch wenn dieser Besuch meinen Geldbeutel erheblich erleichtert hat, so bin ich immerhin wieder online erreichbar und vor allem, dank Google Maps, geografisch orientierter. Außerdem – ich muss ein Geständnis machen – konnte ich nicht an mich halten und bin um ein Schuhpaar reicher. Dazu gesagt werden muss aber, dass es das bequemste Schuhpaar ist, das ich je besessen habe. Ein Gefühl wie auf Wolken! Da läuft es sich mit Schuhen fast besser als ohne. Und bevor mir jetzt gleich jemand eins auf den Deckel gibt, auf dem Heimweg sind tatsächlich meine jetzigen Boots auseinander gefallen. Ungelogen! Beide! Erst der linke, dann der rechte. Auf einmal haben beide Sohlen beschlossen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, sich abzulösen und mir einen schlurfenden, verkrampften Schritt zu verpassen. Da trifft es sich doch gut, dass ich zufällig ein neues Paar dabei hatte. Die alten wanderten in den Mülleimer und ich besitze insgesamt noch immer genauso viele Paare wie vor meiner Abreise. Das war doch einmal eine günstige Fügung des Schicksals.
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