Aber das Leben spielt einem komische Streiche. Die Dinge, die einem wichtig sind, verändern sich. Träume fordern hohe Preise. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Universum jedem Leben ein Gleichgewicht gibt. Und jedes Mal, wenn etwas Gutes passiert, muss im Ausgleich etwas weniger Gutes geschehen. Nur dass dieses weniger Gute manchmal die Kraft des Guten auslöscht.
Meine Heizung macht seltsame Geräusche. Meine Vermieterin hat versucht, mir das System zu erklären, aber verstanden habe ich es nicht. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Dame ausschließlich Italienisch mit mir gesprochen hat, völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich nichts als einen leeren Gesichtsausdruck zu dem Gespräch beizutragen hatte. Die Indizien sprechen dafür, dass dieses Nichtverstehen addiert mit meinem Versuch, an dem grauen Kasten in der Abstellkammer die Temperatur zu verändern, der Grund dafür sind, dass aus meiner Dusche kein heißes Wasser kommt.
Draußen ist es schon seit einigen Stunden dunkel. Es ist neun vorbei. Ich bin müde, aber will noch nicht schlafen. Dabei wäre es besser. Immerhin muss ich morgen mit meiner „Recherche“ anfangen. Und es würde mir vielleicht besser gehen. Die erste Nacht ist immer ungewohnt. Und mein erster Tag spricht auch nicht gerade für dieses Abenteuer. Tatsächlich würde ich hier und jetzt gerne darauf verzichten, wenn die nächsten Tage genauso katastrophal werden. Eigentlich würde ich wirklich am liebsten wieder umkehren. Und ich war auch schon kurz davor, denn für einen Moment schien es, als wäre das der einzige mir bekannte Weg. Was für eine Schande für die Abenteurerin.
Als ich mittags mit dem Bus ankam und durch Mestre fuhr, knotete sich mein Magen das erste Mal zusammen. Zumindest wusste ich, dass meine Station die darauf war. Und ich wusste auch, dass Venedig das eher wenig ansehnliche Mestre tausendfach wettmachen würde.
Dennoch, als ich diese heruntergekommen, scheinbar willkürlich aufeinander geworfenen,
dreckigen und unattraktiven Gebäude vor mir sah, wollte ich heulen. Kurz darauf fuhren wir übers Wasser. Das war schon eher das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war zuvor noch nie mit dem Bus angereist. Früher sind wir mit dem Schiff von Punta Sabbioni aus übergesetzt. Ich muss dem Magazin dafür danken, dass sie immerhin halbwegs großzügig sind, was das Budget angeht und ich eine Wohnung in Venedig selber zur Verfügung gestellt bekommen habe. Nicht auszudenken, ich müsste in Mestre wohnen und jeden Tag pendeln… Ich glaube, dann wäre ich jetzt wirklich bereits wieder auf dem Weg nach Hause.
Schlussendlich bin ich bei Tronchetto ausgestiegen, habe meinen viel zu schweren Koffer und meine Tasche irgendwie Richtung Ticketverkauf geschleppt, mir eine Monatsbootkarte zugelegt, mein abnormales Gepäck auf das Vaporetto gehievt und mit einem gefühlt ausgekugelten Armgelenk die kalte, salzige Luft eingeatmet.
- Und ja, ich habe ein Problem mit dem Packen. Ich habe zu viele Klamotten und wenn ich verreise, überkommt mich auf einmal die Vorstellung, wie ich mich jeden Tag herausputze, um in süßen Outfits exotische Straßen entlang zu schlendern. Wer weiß schon, was alles in einem Urlaub passieren kann…
Und zu verschiedenen Outfits gehören verschiedene Schuhe, von denen ich ebenfalls eine Menge besitze und wenn ich schon einmal die Chance bekomme, in Venedig zu leben, ist das doch die ideale Gelegenheit auf Exemplare zurückzugreifen, die ich schon lange nicht getragen habe… Aber die bequemen Alltagssachen dürfen natürlich auch nicht fehlen. Und mein kompletter Hausrat muss mit, schließlich ist Venedig teuer. Ebenso mein kompletter Schmuck, denn hier werde ich sicher jeden Tag auf eine andere Kette zurückgreifen, so wie ich auch bestimmt auf einmal wieder Lust haben werde zu zeichnen, mir die Karten zu legen und mein Gesicht jeden Morgen mit meinen unglaublich ausgeprägten Schminkkünsten zu verzieren. Kurzum, ich nahm einfach alles mit. Blöd nur, dass das dazu führte, dass ich das wirklich wichtige schon bevor ich überhaupt richtigen venezianischen Boden berührt hatte, verlor.
Als es Zeit war, mit meinen hundert Kilo das Vaporetto beim Bahnhof Santa Lucia zu verlassen, trennte ein ordentlich hoher Schritt das Boot von der Haltestelle. Kein Problem für mich und meine relativ sportlichen Beine. Doch sehr wohl ein Problem für meine nicht ganz so sportlichen Arme, an denen jeweils ein Koffer hing, der beinahe so hoch und dazu bestimmt nicht nur beinahe schwerer war wie ich. Und dann muss es auch noch schnell gehen, alle rennen, das Boot fährt schon fast wieder ab, da bin ich noch nicht einmal am Ausgang angekommen! Zum Glück gibt es doch noch freundliche Venezianer. So wie den jungen Herrn, den Marinaio , dem die Aufgabe zukommt, das Vaporetto an den Haltestellen zu vertäuen. Er packte meinen Koffer und zog… - Und machte ein ziemlich komisches Gesicht, als ihn dessen Gewicht vornüber fallen ließ. Aber mit einem kräftigen Hauruck ging es dann doch. Zumindest fast. Meine Tasche, die ich auf dem Koffer befestigt hatte, fiel bei dem Manöver herunter, genau zwischen Boot und Haltestelle. Ich hatte diese Tasche natürlich nicht zu bekommen und so füllte deren Inhalt die schmale Spalte, in der das Lagunenwasser schwappte. Mit zügigen Handgriffen klaubte ich meine Wasserflasche und mein Kissen vom Boden auf, da fuhr Vaporetto Nummer 2 schon wieder ab. Die Wellen schlugen gegen die Haltestellenwand und ein paar Meter entfernt entdeckte ich meine Speziflasche schwimmen. Sie schaukelte fröhlich auf den Wellen. Im Stillen entschuldigte ich mich für die Plastikverschmutzung. Da traf es mich wie ein Schlag. Kurz bevor ich das Vaporetto verlassen hatte, hatte ich auf mein Handy geschaut. Eine Nachricht von meiner besten Freundin war eingegangen. „ Bist du schon da? “
Ich wollte erst aussteigen und ihr danach antworten, mit einem „ gerade echten venezianischen Boden betreten. “ Also hatte ich das Handy schnell lose zurück in die Tasche gesteckt und mich auf die Herausforderung vorbereitet, rechtzeitig auszusteigen. Und wo zur Hölle war nun mein Handy geblieben?? Immer panischer wühlte ich in meiner Tasche herum. Es musste da sein! Es war da. Ich war mir sicher. Mir war nicht am ersten Tag das Handy ins Wasser gefallen. So etwas konnte mir nicht passieren!
Aber es war nicht da. Wie oft ich auch alles drehte und wendete, den Inhalt auf den Bänken in der Haltestelle verteilte… Mein Handy war nicht mehr da. Mein Handy, auf dem sich alle meine Kontakte befanden, zu meinen Kollegen, meinem Chef, meiner Vermieterin. Das Gerät auf dem sich meine neue Adresse befand. Meine Adresse, die ich natürlich nicht auswendig kannte und die ich mir auch nicht noch woanders notiert hatte. Im Gegenteil, kurz bevor ich aufbrach, hatte ich all meine wichtigen Daten auf mein Handy übertragen. Und jetzt stand ich da, ohne irgendetwas und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht einmal die Handynummern meiner Eltern mit Sicherheit aufzusagen wusste. Die Leute in der Station starrten mich schon komisch an. Eine junge Frau, aufgelöst, hektisch mit ihren Armen herumfuchtelnd und hin und her tigernd, kurz davor zu heulen und bestimmt auch noch völlig verstrubbelt aussehend, so wie man eben aussieht, wenn man eine ganze Nacht in einem Bus verbracht hatte. Was für eine denkwürdige Ankunft. Ob das wohl auch in die Weihnachtsstory gehört?
Ich rannte zurück zum Wasser und blickte in die schmutzig grüne Tiefe. Natürlich sah ich nichts. Dann riss ich mich zusammen. Ich musste nach rechts. So viel wusste ich noch. Das war doch besser als nichts. Ich würde nicht umkehren und den Weg zurück nehmen, den einzigen, den ich kannte. Irgendwie würde ich schon dort ankommen, wo ich hin sollte.
Langsam packte ich meinen Kram wieder zusammen und entfernte mich von der Haltestelle. Einer von diesen vielen, vielen, geschäftigen Menschen würde mir helfen müssen. Ich suchte mir einen nicht ganz so beschäftigt aussehenden, älteren Herrn aus, der vor dem Bahnhof auf den Treppen stand und bat ihn, sein Handy benutzen zu dürfen, um in meinen E-mails meine Adresse zu finden. Der Herr erlaubte mir nicht nur, sein Telefon zu benutzen, er stellte sich auch noch als englischer Gentleman heraus und erzählte von sich, seiner Frau und ihrem jährlichen Urlaub in Venedig. Glück im Unglück, er kannte sich aus und konnte mir tatsächlich eine anschauliche Wegbeschreibung zu meiner Straße liefern. Erleichtert wünschte ich ihm eine gute Heimreise und machte mich auf, durch die gepflasterten Gassen des Viertels Cannaregios. „Wehe, wenn einer von euch Rollen jetzt kaputtgeht“, drohte ich meinem Koffer leise. Der ratterte daraufhin bloß noch ein Stückchen lauter.
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