Die Sonne stand inzwischen über den Ajo Mountains und ihr Licht kroch die Bergflanken gegenüber hinunter ins Tal. Außer mir und dem Indianer hatte niemand Opas letzte Kapriole miterlebt, ich dachte nach, was ich tun konnte, um dem Ganzen einen versöhnlichen Schluss zu geben. Von hier bis dorthin, wo er jetzt lag, hatte ich freien Blick, aber keine freie Fahrt, denn das war sehr ungemütliches Gelände hier am Anfang der Sonora-Wüste. Man musste verdammt aufpassen, sobald man die schmale unbefestigte Straße nach Lukeville verlassen hatte, und dann standen auch noch überall diese Kakteen und trockenen Büsche rum. Aber, was soll ich sagen: Er war mein Opa, er war der Mann, der mir beigebracht hat, wie man Mundharmonika spielt, wie man sich durchsetzt, wenn es um eine Handvoll Kronenscheine geht, der mir gezeigt hat, warum es sich nicht lohnt, Angst zu haben. Wie hat er immer gesagt? Du brauchst nur ein Prozent mehr Mut als Angst, dann kann dir alles gelingen. Und das mit der Prozentrechnung hat er mir auch beigebracht. Also habe ich mich in den himmelblauen Travelette gesetzt, den Opa zusammen mit dem Wohnwagen in Iowa gekauft hatte, und bin losgebrettert Richtung Süden.
Der Kothaufen des Indianers dampfte noch in der kühlen Morgenluft, aber Opa begann schon kalt zu werden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er gleich die Augen öffnen und auf die Füße springen würde. ›Buhuu! Hast du dir etwa Sorgen gemacht? Nun nimm mir doch endlich den verdammten Fallschirmsack vom Rücken, das verfluchte Ding hatte seine eigenen Pläne.‹ Ich blieb ein paar Minuten bei ihm stehen, weil ich immer noch darauf wartete, dass er sich etwas für mich einfallen lassen würde. Aber nein, von seiner Seite kam nichts mehr. Also holte ich den Klappspaten von der Ladefläche und stieß ihn in den trocknen Boden.
* 11. November 1899 zu Nikolaiken (Masuren), † 16. August 1961 zu La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios. Das passt auf keinen Grabstein, dachte ich, während ich mich abmühte, ein Loch in die Wüste zu graben, von dem, was der Steinmetz allein für die Inschrift berechnet hätte, ganz zu schweigen.
Als ich schließlich mit meiner Arbeit zu einem erfolgreichen Ende kam – six feet deep, six feet long, aber für die Tiefe konnte ich nicht garantieren – hatte der Schweiß mein Hemd auf dem Rücken festgeklebt. Ich warf den Spaten über den Rand des Lochs und für eine halbe Sekunde stand das Spatenblatt so, dass es die Sonne auffing und den Strahl auf mein Gesicht lenkte. »Schon klar, Opa«, sagte ich, »für dich immer«. Ich zog mich hoch und krabbelte aus dem Loch. Da standen sie, siebzehn Männer, Frauen und Kinder, bereit, meinem Opa die letzte Ehre zu erweisen. Ein alter Mann mit einem prächtigen Pigalle-Sombrero trat vor, schüttelte mir die Hand und sagte etwas auf Spanisch, was ich nicht verstand. Vielleicht war es ja auch – wie heißt das? – Tohono O’Odhamisch, wer weiß das schon. Dann gab der mit dem Sombrero zwei Männern einen Wink, die packten den Körper und trugen ihn zum Grab. »¡Momento!« rief ich dazwischen.
Sie setzten ihn wieder ab, seinen Rücken gegen die Beine eines der beiden gelehnt – he, dachte ich, da sitzt du und schaust bei deiner eigenen Beerdigung zu. Ich nahm seine Brieftasche aus der Jacke, seine Zigarren und die kleine Echo Harp von Hohner, die ich ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte, die hatte er immer bei sich. Und dann war da noch dieser Zettel, ein Ausriss von einem Briefumschlag, noch die Briefmarken in einer Ecke, da stand was von Hand Geschriebenes, aber das konnte ich so schnell nicht entziffern, also habe ich den Zettel in seine Brieftasche gesteckt und alles zusammen in meinen Rucksack. Inzwischen hatten die beiden Trauergäste Opa in sein Grab gerollt, und ich brach ein paar der gelben Blüten von dem Chaparralstrauch, neben dem er gelandet war, um sie auf ihn zu verstreuen. Später habe ich gelesen, dass die Indianer die Blätter als Heilmittel verwenden bei Lebererkrankung, Harnröhrenentzündung, Magenbeschwerden, Hämorrhoiden und Bluthochdruck – passt ja, dachte ich.
Als das Loch wieder gefüllt war, legten die Jungs ein paar schwere Steine auf den Erdhaufen, ich weiß nicht, ob es die Kojoten vom Buddeln abhalten sollte oder ein alter indianischer Brauch war, ähnlich wie die Juden Steine auf die Gräber legen oder die Tibetaner auf den Bergpässen im Himalaja kleine Steinhügel aufschichten. Ich gab jedem Einwohner von La Buena Vista-und-so-weiter die Hand, stieg in den Pick-up und ließ Opa zurück. Er hatte übrigens Johann Friedrich Wuttke von Trettow geheißen, was ja für sich schon zu lang ist für eine Grabinschrift.
Dreh dich nicht um in Lasolita
Ich nahm die Straße, denn ich wollte nicht noch mal durch die Wüste rumpeln, und außerdem befürchtete ich, dass ich die Schotterpiste, die durch das Kaktustal führt, nicht wiederfinden würde. Also machte ich mich auf nach La Solita, ein Kaff direkt an der Grenze, das fast übergangslos zu Lasolita auf der amerikanischen Seite wird. Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten war damals nichts, was einen beunruhigen musste, es sei denn, die Arizona Diamondbacks hatten mal wieder ein Match verloren oder die Frau vom Patrouillenchef war unpässlich, dann ließen sie es einen schon mal spüren. Heute war offensichtlich so ein Tag, und darum hielten mich die Grenzer an. Einer postierte sich vor dem Kühler, die Hand am Revolver, der andere kam breitbeinig auf meine Seite.
»Motor aus und die Hände dahin, wo ich sie sehen kann!«, sagte er betont ruhig. Ich drehte den Schlüssel um und legte die Hände auf das Steuerrad. »Wo geht’s denn hin Chicano?« Ich brachte das jetzt gerade nicht zusammen: seine Frage und die Situation, ich, er. Ich war wahrscheinlich so ziemlich der blondeste und blauäugigste Chicano, auf den die Sonne Arizonas jemals niederbrannte, während über seinem Mund ein dicker schwarzer Bigote die Frage nach dem Stammbaum stellte.
»Wohin?«, bellte er, und ich antwortete: »Nach Why.« Wenn es nicht so ein kurzer Ortsname gewesen wäre, hätte ich ihn gewiss gestammelt, aber so kam er einigermaßen am Stück heraus.
»Why?«, fragte er, und ich sagte: »Na, weil da mein Wohnwagen steht.« Also, der ganze Dialog funktioniert ja eigentlich nur auf Englisch, wegen Why – Warum, deswegen überspringe ich das jetzt mal.
Ob auf Englisch oder Deutsch, jedenfalls endete das Gespräch damit, dass der Officer mir befahl auszusteigen, aber schön langsam, »eine falsche Bewegung und ich kann meinem Kumpel nicht verdenken, wenn er nervös wird«, warnte er mich. Im Rücken der zwei Grenzpolizisten fuhr gerade ein unverschämt langes und unverschämt breites Kabriolett von Norden nach Süden, vollbesetzt mit einer unverschämt jungen und unverschämt lauten Gesellschaft beiderlei Geschlechts, und ich hielt die Luft an, um nicht von den süßen Schwaden des mildtätigen Krauts, die herüberwehten, high zu werden. Doch die beiden Grenzer hielten die Aufmerksamkeit hoch, die sie mir widmeten, da war kein Platz für nichts anderes, da hätte die gesamte mexikanische Armee in Arizona einmarschieren können: Ich war jetzt der gefährlichste Mann der westlichen Hemisphäre. Der Officer, der neben der Fahrertür stand, war ins Schwitzen gekommen und schnaufte bedenklich, als er mich – Beine breit, Hände aufs Autodach – am ganzen Körper abtastete. Dann zog er doch noch seine Waffe, um mich mit ihrer Hilfe zu dem kleinen Postenhäuschen am Straßenrand zu dirigieren, auf dessen Dach das Sternenbanner schlappgemacht hatte.
Als ich das Innere betrat – genau genommen wurde ich hineingestoßen –, also, wie soll ich sagen: Ich bin ziemlich bewandert in Filmen wie Todesmeilen nach Las Cruces, Ein Mann ohne Furcht, Wer tötet Riley Quinn?, das war ja auch der Grund, warum ich unbedingt mit Opa mal hierher wollte, aber jetzt … Ich sah mich unwillkürlich nach der Kamera um: Dreh dich nicht um in Lasolita, Klappe die Erste, oder so ähnlich. Denn hinter einem schweren Schreibtisch aus dunkler Eiche saß ein Kerl mit so etwas wie einem Sheriffstern, seinen Stuhl hatte er nach hinten gekippt und die Füße (samt Buckaroo-Stiefeln!) auf die Tischplatte gelegt. Ich trau mich gar nicht, dass hier hinzuschreiben, aber er bewegte doch tatsächlich ein Streichholz von einem Mundwinkel zum anderen und zurück. Vor dem Schreibtisch teilte eine hölzerne Barriere den Raum, in der Ecke stand ein alter Schrank, der überquoll von Papieren, daneben zwei Wanted-Plakate mit Fotos von Leuten, die aussahen, als hätten sie dafür stundenlang in der Maske gesessen. Auf einem Sideboard hinter dem Stiefel-Mann stand eine Kanne Kaffee auf der Wärmeplatte und über ihm drehte sich ein Deckenventilator, der bei jeder Umdrehung einmal gequält quietschte. Weniger amüsant fand ich allerdings das, was ich an der Rückwand des Raumes entdeckte. Dort gab es eine Türöffnung, die ließ den Blick frei auf ein winziges fensterloses Kabuff, dessen einzige Einrichtung eine hölzerne Bank war. Die Tür bestand aus Gitterstäben. Bitte nicht dort hinein, bitte nicht! war alles, was ich mir in diesem Augenblick wünschte.
Читать дальше