Vors.: Sie müssen doch also zugeben, daß es auffallend ist, wenn Sie als Fremder von hinten herum zu erfahren suchen, was Sie von vorn beobachtet haben wollen.
Angeklagter schwieg.
Vors.: Es ist doch auch auffallend, daß Sie als fremder Mensch, auf dem Nachhauseweg begriffen, lediglich aus Neugierde in eine finstere Hintergasse sich hineinwagten. Sie kannten die Örtlichkeit doch nicht?
Angekl.: Nein, ich bin suchend an den Torwegen entlang gegangen. Am ersten Torweg war nichts zu hören, am zweiten oder dritten hörte ich dann plötzlich wieder solches Gespreche und ein paarmal auch wieder das Gegurgel.
Der Angeklagte erzählte auf weiteres Befragen: Er habe an der Hinterfront in der Mauerstraße an einem Torwege wiederum Gespräche und dieselben gurgelnden Laute wie vorher gehört. Er bückte sich zur Erde und sah durch einen Spalt der Tür in einen Hof; hierbei sah er erst einen Mann und bald darauf noch zwei Männer mit Licht auf den Hof kommen. In einem der Männer habe er den alter Fleischermeister Lewy erkannt, während ihm die beiden anderen unbekannt waren. Die drei Leute zogen sich in den inneren Hofraum zurück. Er habe schließlich gesehen, daß drei Männer ein langes, schweres Paket in der Richtung nach der Synagoge zu trugen. Im weiteren Verlauf wurden Maßloff vom Vorsitzenden eine Anzahl Widersprüche vorgehalten.
Frau Roß: Sie sei Sonntag, den 11. März, abends gegen 7 Uhr in der Lewyschen Wohnung gewesen. Sie habe dort verdächtige Geräusche und Winseln gehört. Außerdem habe sie ein Taschentuch mit E.W. gezeichnet in der Lewyschen Wohnung liegen sehen. In einem Laken, das sich bei der Lewyschen Wäsche befand, klebten schwarze Haare und Fleischfasern. Als sie Dienstag, den 13. März, zu Lewys kam, habe Frau Lewy gesagt: »Solch ein Mord! Solch ein Mord! Dem Mörder müßte jedes Glied einzeln gebrochen werden.« Am folgenden Tage sei sie wieder zu Frau Lewy gegangen und habe dieser gesagt: Sie könne ihr kein Dienstmädchen besorgen, weil der Mord in ihrer (der Lewyschen) Wohnung passiert sei. Darauf habe Frau Lewy erwidert: »Der Mord kommt, bei Gott, niemals heraus, denn die jüdische Gemeinde ist sehr reich.« Ferner erzählte Frau Roß auf Befragen des Vorsitzenden: Am 1. Osterfeiertage sei ein Knecht zu ihr gekommen, von dem sie aber, da er keine Papiere bei sich hatte, keinen Vermerk in ihr Buch machte. Dieser Knecht habe ihr erzählt, daß er am 11. März den Zug verpaßt habe; er sei nachts zur Stadt zurückgegangen, und dort habe er die Leute gesehen, welche ein Paket nach dem See trugen. Frau Berg bestätigte im wesentlichen die Angaben ihrer Mutter, der Frau Roß. Sie sei, ebenso wie ihre Mutter, Sonntag, den 22. April, vom Oberlehrer Hofrichter und Zahnarzt Maibauer vernommen worden.
Frau Maßloff bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe in der Lewyschen Wohnung eine Uhrkette und die Photographie von Winter gesehen. Seit dem Morde habe es in ihrer Wohnung »gespukt«, sie seien deshalb ausgezogen. (Allgemeine Heiterkeit.)
Professor Dr. Paszotta, der Leiter des meteorologischen Instituts in Konitz, bekundete: In der Nacht vom 11. zum 12. März waren 3 Grad Kälte. Der Mond stand über dem Mönchsee so tief, daß die hintere Straße ohne Schatten war, dagegen konnte der Mond nicht in die Höfe der Häuser an der Danziger Straße hineinscheinen. Maßloff hatte behauptet, daß im Hofe von Lewy Mondschein war.
Gerichtsarzt, Sanitätsrat Dr. Mittenzweig, bekundete: Die Abgabe des Gutachtens ist erschwert, weil die Leichenteile einige Zeit im Wasser und dann noch 15 Tage im Spiritus gelegen haben, und weil man es nicht mit einem ganzen Leichnam, sondern nur mit einzelnen Teilen zu tun hatte. Bei der Nachobduktion ist auch festgestellt, daß Spiritus in die Gewebe geraten, wodurch die Auslaugung noch besonders befördert worden ist. Als wahrscheinliche Todesursache ist Verblutung anzunehmen, doch sind auch Symptome dafür vorhanden, daß Erstickung eingetreten ist. Diese Symptome bestanden darin, daß durch Einatmung Blut in die Lungen eingedrungen, welches bei Ausführung des Halsschnittes in die Luftwege geraten ist. Ich habe mich bezüglich des Schächtschnittes auf dem Berliner Viehhofe eingehend informiert. Ich war bei mehreren Schächtungen zugegen und fand, daß das eine ganz einfache Prozedur ist, die beinahe elegant ausgeführt wird. Der an der Leiche vom Winter vorgefundene Halsschnitt ist niemals ein Schächtschnitt gewesen, wenn auch die Höhe etwa übereinstimmt. Die weitere Frage, ob der Schnitt von vorn oder von hinten geführt wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht beantworten. Der Tod ist mutmaßlich zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten. Auf eine Frage des Oberstaatsanwalts gibt der Sachverständige an, daß der Tod binnen 2 Minuten nach dem Schnitte erfolgt sein muß, und daß der Ermordete nach dem Schnitte ebensowenig noch Laute von sich geben konnte wie ein Tier nach dem Schächtschnitt. Die Zerlegung, die durchaus kunstgerecht ausgeführt war, konnte in etwa einer Stunde ausgeführt sein.
Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Störmer (Berlin): Er neige der Ansicht zu, daß Winter sich verblutet habe. Der Halsschnitt sei augenscheinlich erst ausgeführt worden, als Winter infolge einer Erstickung sich bereits im Todeskampf befunden habe. Er könne dem Kollegen Mittenzweig nicht beistimmen, daß die Erstickungssymptome durch das Einatmen des Blutes in die Lungen zu erklären seien. Jedenfalls liege kein typischer Verblutungstod vor, denn die Leiche enthielt mehr Blut, als bei einem normalen Verblutungstode zulässig sei. Von Blutleere könne keine Rede sein. Der Tod müsse zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten sein, wenn nachgewiesen sei, daß Winter seit der Mittagsmahlzeit nichts mehr gegessen habe. Überhaupt lassen sich bei der Eigenart des Falles vollkommen sichere Behauptungen gar nicht aufstellen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsdiagnosen, weil einige der wichtigsten Körperteile, wie Magen, Leber, Milz und Gedärme fehlen. Der Schnitt in das Zwerchfell sei durch die Absicht, die Leber zu entfernen, auf das natürlichste zu erklären.
Gerichtsarzt, Privatdozent Dr. Puppe (Berlin): Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Tod durch Erstickung eingetreten sei, den Tod durch Verblutung halte er für ausgeschlossen. Auffallend sei, obwohl die Leichenteile so lange im Wasser und alsdann in Spiritus gelegen haben, der immer noch große Bestand an Blut in sämtlichen Geweben. Er sei auch der Ansicht, daß der Tod zwischen 1 bis 7 Uhr nachmittags erfolgt sei. Eine Anzahl Nachbarn und Bewohner des Lewyschen Hauses bekundeten: Sie seien am Sonntag, den 11. März, den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen und haben nichts Auffälliges wahrgenommen. Ein Stöhnen und Winseln hätten sie zweifellos gehört. Alle diese Zeugen bekundeten, daß sie Ernst Winter niemals im Lewyschen Hause gesehen haben.
Fleischermeister Adolf Lewy bekundete: Wenn ihm am 11. März ein Stück Fleisch von 5 bis 6 Pfund abhanden gekommen wäre, dann hätte er es zweifellos gemerkt, es sei ihm aber bestimmt kein Stück Fleisch abhanden gekommen. Maßloff hatte nämlich behauptet, er habe an jenem Abend in dem Lewyschen Hofe nicht nur Beobachtungen gemacht, sondern auch ein Stück Fleisch gestohlen.
Es verdient erwähnt zu werden, daß der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Schwedowitz, zu sämtlichen jüdischen Zeugen sagte: Sie seien berechtigt, ihre Aussage zu verweigern, wenn sie befürchteten, sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. Christlichen Zeugen wurde diese Vorhaltung nicht gemacht. Sehr eingehend wurde über das Alibi des Fleischermeisters Adolf Lewy am Nachmittag und Abend des 11. März verhandelt. Die Geschworenen fragten alle christlichen Alibizeugen bezüglich Lewy, ob sie von letzterem beeinflußt worden seien. Diese Frage wurde von allen Zeugen verneint.
Im Laufe der Verhandlung erschien eine Frau Wiwiorra als Zeugin: Im Dezember 1899 oder im Januar 1900 sei sie eines Tages als einzige Kundin im Laden von Matthäus Meyer gewesen. Zunächst seien nur Frau und Fräulein Meyer im Laden gewesen. Sehr bald darauf seien Herr Meyer und ein fremder Mann in den Laden getreten. Sie gingen in den Hintergrund des Ladens. Alsdann habe Frau Meyer sie (Zeugin) gefragt, ob sie Ernst Winter kenne, und als sie dies bejahte, habe Frau Meyer gemeint: das sei nicht gut. Fräulein Meyer habe hinzugefügt: »Mama, was geht denn dich das an.« Sie habe sich gedacht, daß es sich bei der ganzen Sache um eine Überraschung für Tuchlers, etwa um einen gemeinsamen Gesang oder so etwas gehandelt habe.
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