Bin ich stark und entschlossen genug, das durchzuziehen?
Gott, steh mir bei! Aber ich will es tun. Ich will das wirklich wagen. Wie zum Teufel stelle ich das nur an? Wie verführe ausgerechnet ich jemanden, der früher selbst der Verführer war und aufgrund seiner derzeitigen Verfassung sehr wahrscheinlich unempfänglich oder misstrauisch für diese erotischen Absichten sein wird?
Ich erinnere mich nicht daran, je so verrückte Ideen gehabt zu haben. Seltsamerweise ist es dieser kühne, völlig wahnsinnige Plan, der sich in meinem Kopf formt, der mich endlich einschlafen lässt. Verrückt. Erst jetzt gelingt es mir, die Unruhe in mir abzustellen und die Augen zu schließen. Vielleicht bekomme ich doch noch zwei Stunden Schlaf vor einem zehnstündigen Arbeitstag.
Kaum bin ich eingenickt, läutet mein Handy. Zuerst denke ich, dass ich kurz verschlafen habe und nun schon der Wecker läutet. Murrend fasse ich nach dem Smartphone und bekomme fast einen Schlag, als ich den Anrufer auf dem Display erkenne. Eingehender Anruf: Jan Herzog. Sofort bin ich wach. Vielleicht träume ich noch? Mit Unterstützung dieser beruhigenden Vorstellung drücke ich auf annehmen und halte mir das Handy ans Ohr. Mein Herzschlag dröhnt so laut, dass ich Angst habe, nichts zu hören.
„Ella?“, höre ich seine fragende Stimme. Er klingt verdammt wach, so als hätte er keine Minute geschlafen.
„Jan?“
„Ja“, bestätigt er kurz und eine unangenehme Pause entsteht, als wisse keiner von uns, was er eigentlich sagen soll. Aber immerhin hat er mich angerufen um – ich sehe kurz auf die Uhr – fünf Uhr morgens.
Er seufzt leise. „Ich hätte nicht anrufen sollen.“
„Nein, ich meine … Schon okay. Wieso rufst du so früh an?“
Mist. Ich stottere. Aber ich kann mich darauf ausreden, ich hätte schon geschlafen.
„Oh … Wie spät ist es denn?“, fragt er ehrlich erstaunt.
„Ähm … So fünf Uhr vorbei.“
„Mist. Ich wusste das nicht. Ich konnte nicht schlafen – wie meistens nicht – und dachte, bevor ich es mir nochmals ausreden kann, ruf ich dich lieber gleich einfach an … Aber ich kann auflegen und später anrufen, wenn du noch schlafen möchtest.“ So fahrig und unsicher habe ich ihn noch nie erlebt.
Irgendwie gefällt es mir. Mein Magen drückt bei dem Gedanken, dass er an mich gedacht und dieser Anruf ihn nervös gemacht hat.
„Nein, ist schon in Ordnung. Jetzt bin ich ohnehin wach.“
War ich schon die ganze Nacht lang. Aber das lasse ich lieber unerwähnt, genauso wie den Grund dafür.
„Ich wollte dir nur nochmal sagen, wie beschissen mein Verhalten war. Kann ich dich heute zu einem Kaffee einladen und wir reden?“ Ein so einfacher Vorschlag und dennoch bricht mir der Schweiß aus, obwohl es mir doch wunderbar in den Kram passen sollte, bedenkt man meinen verrückten Plan. Aber ich habe eine noch bessere Idee.
„Ich komme heute ziemlich spät von der Arbeit.“
„Verstehe“, brummt er düster, als hätte ich ihn abgewimmelt.
„Also … wieso kommst du danach nicht zu mir? Ich wohne noch in derselben Wohnung wie früher. Außerdem nehme ich, wenn ich so lange arbeite, immer ein paar Überbleibsel aus der Hotelküche mit. Alles sehr lecker. Und bei mir können wir uns in Ruhe unterhalten … wenn du willst.“ So, ich habe es getan. Der Vorschlag ist raus und damit liegt es an ihm.
Jan zögert. Es knistert in der Leitung. Das Schweigen dehnt sich aus. Hat er genauso Angst vor den Erinnerungen hier wie ich?
„Und das macht dir nichts aus?“, fragt er nach.
„Nein, gar nicht.“ Das ist glatt gelogen. Es hat ein Jahr gedauert, ehe nicht jede Kleinigkeit in meiner Wohnung mich an ihn erinnert hat. Dafür gibt es Ikea und all die anderen Möbelhäuser, die es mir erlaubt haben, für wenig Geld viel Veränderung herbeizuzaubern. Danach wurde es besser. Auch wenn es nicht leicht sein wird, ihn wieder hier zu haben, hilft es mir. Hier wird er vielleicht leichter auftauen.
„Gut. Soll ich etwas mitbringen?“
„Nur dich. Für den Rest sorgt die Hotelküche und meine Kaffeemaschine.“ Er schmunzelt kurz, glaube ich.
„Wann soll ich bei dir sein?“
„So gegen halb sieben.“
Dann habe ich noch über eine Stunde Zeit, um zu duschen, mich umzuziehen und mir einzureden, dass ich bereit dafür bin.
„Das … Das passt.“ Ich habe das Gefühl, er wollte eigentlich etwas anderes sagen.
„Bis dann.“
„Bis dann, Ella.“
Ich lege auf und wünsche mir, dass es mir nicht so durch und durch gehen würde, wenn er meinen Namen sagt. Niemand sagt meinen Namen so bewusst und auf diese spezielle Weise. Das hätte ich beinahe schon vergessen.
Bin ich denn verrückt, zu glauben, ich würde das durchziehen können, ohne zu scheitern? Oder schlimmer noch, ohne mich in ihn verlieben zu können?
Mir bleiben noch über zwölf Stunden, um mich auf den Abend mit Jan gefasst zu machen. Ich versuche mich daran zu erinnern, warum ich das tue, um den Mut nicht zu verlieren.
Doch tief in meinem Inneren weiß ich, warum ich das tue, und es hat sehr viel mit der Nacht zu tun, als Jan und ich das erste Mal miteinander geschlafen haben.
Ella - 2010
Ich könnte vor Nervosität zerspringen. Ich zittere, und ich glaube, er bemerkt es. Wieso kann ich nicht zu den selbstsicheren Frauen gehören, für die das hier ein Leichtes ist, die sich wohl in ihrer Haut fühlen und ihrer eigenen Weiblichkeit sicher sind?
Jan lässt mich keine Sekunde aus den Augen, seit wir zurück in meiner Wohnung sind. Im Restaurant hat mir sein Flirten noch einen Kick verschafft und mich locker gemacht. Seine Küsse vor meinem Wohnhaus waren ebenfalls sehr willkommen. Doch jetzt kriechen meine Schüchternheit und Nervosität aus jeder Ecke hervor und haben mich vollkommen im Griff. Die Vorstellung, gleich nackt zu sein, macht mich derart nervös, dass mir der Magen schmerzt. Wie soll ich auch ruhig bleiben, wenn seine blauen Augen mich so anstarren? Seit ein paar Minuten haben wir uns nicht mehr geküsst. Es ist viel leichter, sich selbst zu vergessen, wenn ich an seinen Lippen hänge und unsere Zungen leidenschaftlich miteinander beschäftigt sind. Nun bin ich mir meiner selbst viel zu bewusst. Ich denke an meine leichte, weiche Bauchwölbung und meine Schenkel, die nicht gerade an eine Gazelle erinnern, und an meinen Busen, der für meine Körpergröße viel zu üppig geraten ist. Aber vor allem denke ich an Jan, der mich anstarrt, während er sich ohne jede Scham vor mir auszieht. Verdammt, ich kann genau spüren, wie mir die Röte noch mehr ins Gesicht schießt. Meine Wangen stehen in Flammen. Jan hat nicht die geringste Scheu und enthüllt seinen athletischen Körper, der mich atemlos und befangen macht. Kurz grinst er in sich hinein, ehe er die Shorts nach unten schiebt. Und ich stehe hier in BH und Rock, halb angezogen vor dem Bett wie eine unerfahrene Idiotin. Als er aus der Beuge wieder hochkommt, sehe ich alles, besonders den erregten Teil von ihm, der steil nach oben ragt. Der Anblick macht mich noch feuchter, was mir peinlich ist, obwohl es das nicht sein sollte. Doch seine Erregung, die mir gelten muss, hilft mir auch etwas von meiner Unsicherheit zu verlieren. Immerhin bedeutet es, er will mich. Unsere Küsse und mein Anblick bewirken das bei ihm. Der Gedanke hilft mir, so dass ich fähig bin, mir die Strumpfhose auszuziehen und auch den Slip. Nur Rock und BH gelingen mir nicht. Ich musste mich bisher noch nie vor jemandem ausziehen. Meine wenigen, nicht besonders glorreichen sexuellen Erfahrungen – zwei an der Zahl – waren eher schnell vonstattengegangen. Kleidung war dabei nur im Weg und wurde verschoben oder hektisch vom Körper des anderen gerissen. Doch mit Jan ist es anders. Mit ihm ist einfach alles anders. Wir reden dabei nicht, was meine Nervosität verstärkt. Er lässt sich Zeit.
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