„Sie werden entschuldigen“, wich sie verstört aus. „Aber ich habe es mir anders überlegt. Ich werde doch besser das Lokal wechseln.“
„Das steht Ihnen selbstverständlich frei, Madame“, erwiderte der Chef nachsichtig. „Nur würde ich es bedauern, wenn Sie mit unserem Service nicht zufrieden sind.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Ich muss es aber annehmen, nachdem Sie mich über meinen Kellner haben rufen lassen.“
„Dann nehmen Sie falsch an! Das scheint Ihnen öfter zu passieren!“
„Sie meinen doch nicht etwa wie beim letzten Mal?“
Bei diesen Worten schreckte die Frau zusammen und zog fröstelnd den Kragen enger um den Hals. Gott, war ihr das peinlich, auf diese Weise an den jüngsten Fauxpas erinnert zu werden, als sie in der sicheren Annahme, verfolgt zu werden, Schutz in eben diesem Café suchte. Der gleiche Mann sicherte ihr damals seine Hilfe zu und hatte sogar die Polizei alarmiert. Jetzt erkannte sie ihn wieder. Am Ende war das ganze Lokal in heller Aufregung. Doch ihre Befürchtung fand keine Bestätigung. Alles blieb bei unbewiesenen Behauptungen und der ganze Eklat verpuffte. Die Polizei nahm ihre Personalien auf und verschwand wieder.
Sollte sie sich auch diesmal geirrt haben? Unmöglich! Dazu war es zu intensiv. Zwar bewegte sich alles noch im Vorfeld, blieb bei Ahnungen und Befürchtungen. Doch die vielen kleinen Nadelstiche waren nicht nur Produkt ihrer Einbildung. Kaum eine Nacht, in welcher ihre Beklemmung nicht in Todesangst umschlug. Selbst die stärksten Beruhigungsmittel halfen nicht.
„Ist Ihnen nicht gut, Madame Ritter?“, hörte sie von Ferne die Stimme des Chefs.
„Wie bitte? Oh, doch natürlich… Aber woher wissen Sie …?“
„Ihre Personalien wurden doch beim letzten Mal notiert. Erinnern Sie sich nicht? Carola Ritter, 35 Jahre, wissenschaftliche Assistentin, ledig, keine Kinder.“ Er tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Ich habe ein gutes Gedächtnis. Dort drüben haben Sie gesessen und den Beamten den Sachverhalt geschildert und gleich daneben stand ich. Ich hatte Ihnen noch das Glas Wasser gereicht und Sie versprachen mir, künftig auf sich achtzugeben.“
Jetzt erinnerte sie sich. Ein winziges Lächeln irrte über ihr Gesicht. „Oh ja, Sie waren sehr nett zu mir. Und jetzt – jetzt bin ich schon wieder ... Das ist mir sehr peinlich.“
„Das muss es nicht. Immerhin sind wir alle nur Menschen und haben unsere Schwächen. Benötigen Sie etwas?“
„Oh, nein danke.“
„Geht es Ihnen wirklich gut?“
„Was soll das? Selbstverständlich geht es mir gut!“ Sie schlug seine Hand weg, die gerade tröstend ihre Schulter berührte.
„War es denn heute wieder wie beim letzten Mal?“
„Ja natürlich! Oder meinen Sie, ich komme umsonst herein? Es ist immer das gleiche! Das ist es ja, was ich den Beamten begreiflich machen wollte! Doch niemand glaubt mir … Warum gucken Sie so? Aber ich sehe schon! Auch Sie glauben mir nicht und spielen nur den Verständigen. In Wahrheit machen Sie sich über mich lustig!“
„Oh nein, keineswegs!“
„Geben Sie sich keine Mühe! Ich habe Sie durchschaut! Sie sind auch einer von denen! Sie machen mir nichts vor!“
„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Ritter! Ich versichere Ihnen …“
„Versichern Sie lieber nichts, denn ich habe einen guten Anwalt! Im übrigen können Sie sich Ihr Mitgefühl sparen! Ich brauche es nicht, von niemandem, verstehen Sie?“ Dann aber, als wäre sie über die eigene Lautstärke erschrocken, mäßigte sie erneut ihren Ton und sah sich scheu um. „Eine Bitte noch. Wenn ich Ihr Café verlasse, möchte ich das unauffällig tun. Verstehen Sie? Das ist doch auch in Ihrem Interesse.“
„Ja natürlich, Madame - nur wie kann ich dazu beitragen?“
„Indem Sie ganz einfach wieder zum Tresen gehen und mit Ihrem Kellner scherzen. Tun Sie das am besten möglichst laut und ungezwungen. Das wird die Aufmerksamkeit der Gäste von mir lenken und ich werde diesen Moment nutzen.“
Der Chef hob verwundert die Brauen, fragte dann aber erstaunlich naiv, ob das auch wirklich alles sei.
Ohne darauf zu antworten, erhob sich die Frau und begab sich mit kurzen, schnellen Schritten zur Tür, allerdings so übereilt, dass es jedem auffiel. Kurz davor stolperte sie auch noch und wäre fast gefallen, hätte sie nicht im selben Moment ein gerade hereinkommender Gast aufgefangen. „Hoppla“, sagte er freundlich und stützte galant ihren Arm.
Daraufhin färbte sie sich krebsrot und entwand sich ihm bitterböse. Dann rannte sie, ohne auch nur ein Wort zu erwidern, aus dem Café, indes er ihr völlig verblüfft nachschaute. Kaum draußen, hastete sie um die nächste Ecke, sank dort rücklings gegen die Hauswand und schnappte nach Luft.
‚Verdammt, wer war dieser Kerl?‘, schoss es ihr durch den Kopf und sie sah ängstlich zurück. Wieso kam er gerade jetzt herein? Aber das war kein Zufall. Niemand kommt ausgerechnet im Augenblick ihrer größten Erregung herein. Das war sonnenklar. Es gehörte dazu. Das alles war nur ein Spiel. Man wollte sie hierher treiben, immer an den gleichen Ort, damit sie sich jedes Mal vor dem gleichen Publikum unmöglich machte. Wie abgekartet! Das musste ein Ende haben, sofort!
Kurze Zeit darauf saß sie in der Bahn und fuhr zu einer bestimmten Adresse eines bestimmten Herrn. Zwar mochte sie ihn nicht, doch konnte sie in letzter Zeit nicht auf seine Hilfe verzichten. Dabei handelte es sich um niemand anderen als den stadtbekannten Neurologen und Psychiater Prof. Dr. Wolfgang Weidenfeller, eine Kapazität auf dem Gebiet der kognitiven Verhaltenstherapie und schizophrener Paranoia. Verständlicherweise vermied sie unangemeldete Besuche, denn sie fürchtete seine mitunter doch sehr ruppige Art. Doch das heutige Erlebnis war derart beunruhigend, dass sie ihre Furcht überwand und gegen diese Regel verstieß.
Als sie sein Behandlungszimmer betrat – ein geräumiger Raum mit hellen, sterilen Wänden, einem rustikalen Schreibtisch und Freud‘scher Couch in der Ecke - huschte ihr verstörter Blick sogleich durch das Zimmer und blieb, Gott weiß warum, an dem schweren Brieföffner auf dem Schreibtisch haften. Eigenartige wulstige Rillen zierten die Seiten des barocken Gegenstandes. Warum ihr das auffiel, konnte sie nicht erklären, ebenso wenig wie das plötzliche Verlangen, ihm dieses Ding an den Kopf zu schleudern.
Der Professor war ein stattlicher, bereits bejahrter Mann mit buschigen ergrauten Augenbrauen und einem markanten, scharf geschnittenen Gesicht. Er kannte die Patientin schon länger und hatte in letzter Zeit einige durchaus bemerkenswerte Erfolge erzielt, schien aber noch nicht recht zufrieden. Im Grunde war er wortkarg und entnahm vieles den Augen und vor allem der Mimik seiner Patienten, so dass längere Diskussionen nicht nötig waren. Es hasste so etwas. Vielmehr liebte er die Schweigsamkeit, durchbrochen von gelegentlichen Monologen.
So war es auch jetzt. Statt etwas zu sagen, schnitt er ein höchst unzufriedenes Gesicht. Mehrmals setzte seine Patientin an, sich ihm zu offenbaren, brach aber immer wieder ab. Schließlich zog sie entnervt ihre Perücke vom Kopf, legte die Brille auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber auf den knarrenden Stuhl.
„Ich bin gekommen, weil…“, versuchte sie es erneut, geriet jedoch nach seinem finsteren Blick ins Stocken.
„Ja, ich weiß“, kam er ihr zuvor, erhob sich und schritt, die Hände über dem Rücken verschränkt, nachdenklich vor ihr auf und ab. Hin und wieder blieb er stehen und betrachtete sie überaus besorgt. „Es ist also wieder passiert“, folgerte er.
„Ja, leider.“
„Und wo dieses Mal?“
„In der alten Linienstraße. Dort habe ich die Nerven verloren und bin weggelaufen.“
„Aber warum? Wir hatten doch vereinbart, dass Sie nicht davonlaufen, sondern sich den Dingen stellen! Warum, um Himmels Willen, tun Sie nicht, was man Ihnen sagt?“
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