„Ich habe nichts übrig für Leute, die ihr Leben verschlafen“, sagte Tante Tina laut - zu laut. Ezra wählte eine stille Form des Angriffs. „Ich sehe, sie ziehen einen Kessel über den Hof, um besonders viel Lärm zu machen.“
„Ich hatte auch keine gute Nacht“, sagte Tante Tina, indem sie auf ihn zuging, „aber ich bereite dennoch ganz alleine alles vor, damit Ordnung herrscht, wenn meine Freundin kommt.“ Sie stand ganz knapp vor Ezra und überragte ihn um einen halben Kopf.
Was für eine Freundin kommt? Er musste Esther finden. Die hatte nichts davon gesagt. Er drehte sich um und ging. Ohne Höflichkeiten. Esther konnte das nicht verschlafen haben. Auf der Treppe traf er Jörg und Hubert, die wollten fahren – sie hatten Kopfweh und genug vom Lärm. Sie waren fertig angezogen und hatten ihre Sachen gepackt. Konnte er verstehen, aber sie alle waren in nur einem Auto gekommen. Ja, er würde sie dann zur Bahn bringen. Vielleicht sollten sie noch ein bisschen in die Wiese schlafen gehen. Wo war Esther? Er klopfte an Esthers Türe. Im Hof hallte Hammer auf Kessel. Sie öffnete fertig angezogen. Er huschte ins Zimmer. Esther war eine attraktive Frau, aber schließlich kannte sie ihn auch in Badehose, jetzt in Blümchenshorts.
„Was tun wir?“, fragte er heiser. Er hatte das Bedürfnis, verschwörerisch zu wispern, ließ das aber bleiben bei dem Lärm im Hof.
„Keine Ahnung.“ Die sonst so tüchtige, umsichtige Esther war ratlos.
„Sie sagt, sie muss für ihre Freundin alles vorbereiten.“
„Welche Freundin?“
„Ich habe gedacht, du weißt davon?“
„Nein, keine Ahnung. Da kann nur Ida etwas regeln“, sagte sie hilflos.
„Dann sprechen wir einmal mit Ida.“
„Das geht nicht, die schläft noch.“
„Die schläft noch! Wie soll das gehen?“
„Wenn es unangenehm wird, geht Ida immer schlafen. Sie rollt sich ein und weg ist sie. Je unangenehmer, desto fester schläft sie.“
Ezra tauschte die Blümchenshorts und fuhr zum Bahnhof, um Jörg und Hubert abzuliefern. Hille und Spital würde er am Nachmittag machen.
Um 11.30 Uhr war es dann so weit. Ein Taxi rollte in den Hof. Ihm entstieg ein schwitzender Fahrer, der sich mit einem großen Tuch Stirne und Hals wischte. Sein Fahrgast war eine ältere Dame, sehr dünn und klein. Auf dem Rücksitz neben ihr lagen einige größere Taschen und andere Behältnisse, und wie es schien, eine große Rolle Bettwäsche. Der Rücksitz war ziemlich voll, übervoll. Ezra erwartete, dass beim Öffnen der Türe eine Kaskade aus dem Auto brechen würde, und schaute gespannt. Der Taxifahrer strebte auf ihn zu. Ezra nahm ihn mit in die Küche, um ihm etwas zu trinken zu geben. Während er die Limonade anrührte und mit Eiswürfeln versah, fragte er scheinheilig: „War es sehr schlimm?“
Das half, der Staudamm brach. „Zuerst hat sie festgestellt, dass ich rauche und dass nicht einzusehen ist, warum sie sich den Gestank antun soll, dass ich ihrer Gesundheit schade. Es gibt kein anderes Taxi, so kam sie mit allen Sachen, wirklich mit allen. Sie muss eine große Wohnung haben und die hat sie ausgeräumt. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um alles reinzukriegen“, fauchte er wütend. Er nahm die Demütigung für sein Fahrzeug sehr übel. „Dazu hat sie aus irgendeinem Grund verweigert, etwas auf den Vordersitz zu stellen. Als ich es versuchte, weil ich es hinten nicht mehr hineinbekommen habe, hat sie gesagt `Das würde ihnen so passen, junger Mann´, keine Ahnung was sie damit gemeint hat.“ Er war gekränkt, obwohl er wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, dass der Vordersitz wegen Diebstahl nicht in Frage kam. „Dann haben wir in den zehn Minuten Fahrt die Fenster vorne, hinten, rechts und links in allen Kombinationen auf- und zugemacht, weil sie so empfindlich ist.“
Gerade kamen quiekend singende Stimmen aus dem Haus. „Tinchen, mein Tinchen. Du hast an deine arme, kleine Freundin gedacht.“
Dann die tiefe Stimme von Tante Tina. „Das schönste Zimmer für dich, mein Röschen.“
„Ich hoffe, Sie kommen sie bald wieder holen“, meinte Ezra.
„Nicht ich, sagte der Taximann entschlossen. Das soll ein Anderer machen.“ Er führte die Hand leicht grüßend an den Hut und ging.
Er war aber gleich wieder da. „Die Damen sagen, ich soll zu Ihnen wegen zahlen“, meinte er. Ezra fühlte sich nicht dazu berufen und ging Esther suchen. Esther saß hinter dem Haus mit einem gesunden Brot, an dem sie lustlos kaute. Sie hatte gerade wieder Diät - auf die kleine Unzufriedenheit kam es auch nicht mehr an.
Ezra teilte ihr das Problem mit.
Es wurde wortlos behoben. Was sonst? Ida war noch immer nicht zu sehen. Im Hof lag ein gewaltiger Haufen Gepäck von „Röschen“. Und Ezra beschloss, sich davonzumachen, bevor eine der Damen auf die Idee kam, ihn als Kofferträger zu benützen.
Hinter dem Haus wogte die verwunschene Wiese. Eine Wiese, in der noch Elfen und Kobolde hausten. Sanft hügelig und feucht genug, dass eine Vielfalt an Gewächsen hier zu Hause war. Große, gelbe Disteln und klebrige rosa Nelken und Glockenblumen und Wiesenschaum. Es summte und war einfach schön.
Ezra hatte das Bedürfnis, sich vom Haus zu entfernen, um in Ruhe die Situation klären zu können. War Hille einem Versuch zum Opfer gefallen, ihn umzubringen? Kleine, böse Gedanken wurden wach. Waren Hubert und Jörg nur so schnell gegangen, weil sie mit der Sache etwas zu tun hatten? Hatte einer von ihnen Hille gestoßen? Oder gab es einen anderen Auslöser von Hilles Unfall? An einen aggressiven Hausgeist wollte er eher nicht glauben.
Was wusste er von Hubert? Sohn reicher Eltern, ständig in Geldnöten. Papa war für arbeiten, Hubert nicht. Trotzdem hatte er unregelmäßig viel Geld und dann wieder panisch keines. Ezra vermutete, dass er an Systemen für Glückspiel rechnete. Jetzt war gerade Ebbe, deshalb hatte er mit ihnen die Wohnung geräumt. Er hatte dabei versucht, das Schlimmste an Arbeit zu vermeiden, und rechnete ständig in kleinen Heften und vor allem auf seinem Laptop.
Und hatte er nicht Hubert einmal auf der Uni mit Vorberg gesehen? Ezra hatte eine sehr feindliche Haltung gegenüber Vorberg. Vor allem im letzten Jahr hatte Ezra Remus Vorberg immer deutlicher als etwas Übles, vielleicht sogar Bedrohliches wahr genommen. Aber wie konnte der Hille gestoßen haben? Und warum sollten er oder Hubert so etwas tun?
Und Jörg? Jörg kam aus Deutschland, war schwul und verspielt, inkonsequent. Ein großer knochiger Junge, der immer lachte, auch wenn es ihm gar nicht gut ging. Dass der plötzlich Hille umbringen wollte, war nicht leicht zu glauben.
Und Hille? Er hatte Hilles Taschen durchsucht und drei besonders schöne Köder gefunden, die der, scheint es, aus dem Fischeranzug gezogen hatte. Hatte wohl nicht widerstehen können. Die Brillantringe hatte er brav abgeliefert. Still gab er an dem Abend den Fund wieder in Hilles Tasche. Was konnte jemand gerade von Hille wollen? So bedrohlich, so rücksichtslos, so mörderisch.
Er schlenderte den Weg entlang zum Nachbaranwesen. Die Sonne brannte. Im Hof war keiner. Die Kühe schnaubten im Stall. Ezra ging nachschauen. Der Stall war ziemlich düster. Es roch süßlich und nach Heu. Die Tiere regten sich träge. Er konnte nur langsam etwas erkennen. Die Fenster waren klein und mit Spinnweben zugewachsen. Er kraulte einer Kuh die Stirne und stellte dann fest, dass sie ein Stier war.
Da sah er jemanden stehen. Eine Frau. Er begrüßte sie überfreundlich. Sie schaute ihn nur düster an, mit starrem Blick. Er konnte jetzt besser erkennen. Sie hatte ein seltsam unzureichendes Gerät in der Hand, etwas wie einen verrosteten Metallbesen. Daran klebten Reste von Stalldung, und sie schien damit den Stall reinigen zu wollen. „Sie bringen Bakterien herein, das kann ganze Herden ausrotten. Es gibt Kälber hier“, sagte sie schließlich düster. Pythia, die düstere Wahrsagerin von Mord, Totschlag und Untergängen aller Art?
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