„Dann sag halt etwas, irgendwas, sag wie du heißt und ihr auch. Ich brauch das.“
Sie sagten alle brav ihren Namen ins Mikrofon, Ezra, Esther, Edmund, Hille, Hubert und Jörg. Ida kam angelaufen und rief „Ich will auch was sagen, ja, meinen Namen.“
Sie sagten alles noch einmal, bis Wolfgang zufrieden war, und er ging und schaltete an den Geräten herum. Da klang es laut und deutlich, wenn auch ein bisschen unrein, über den großen Hof: „Ich bin Robert.“
„Was hast denn du da drauf gehabt? Von wann ist denn das?“, fragte Ezra und merkte, dass Wolfgang erstarrt dort saß. „Ich hatte nichts drauf, ich hab das grad erst neu eingelegt. Aus der Packung – neuer Chip“
Wolfgang war verwirrt. Er schaltete um. Es dauerte ein bisschen, dann sagte Edmund: „Ich heiße Edmund….“ Es klang vertraut, deutlich und klar über den Hof. Die Tonqualität war sehr gut, ausgezeichnet. Nach Ida war die Sache zu Ende und Wolfgang schaltete. Da erklang wieder das etwas undeutliche „Ich bin Robert.“
„Das ist vielleicht der aus dem Fenster“, meinte Ida.
„Wer aus dem Fenster?“ Sie standen alle beisammen.
„Da oben im Fenster ist immer wieder einmal ein Mann mit Hut. Ich habe ihn schon am ersten Tag gesehen, als wir hier waren, das Haus anschauen. Da stand er oben und schaute auf uns herunter. Ein ziemlich prächtiger Hut.“
Ezra spürte ein leises Prickeln. Wie ist das Leben mit einem Gespenst? Hatte das nur Belastungen oder konnte das auch Vorteile bieten? Schließlich hatte er hier einen Job zu machen. Tante Tina sollte sozusagen sanft entfernt werden. Esther hatte ihm die Sache erklärt. Einfach rausschmeißen kam nicht in Frage. Ideal wäre es, würde sie selbst beschließen zu gehen. Da konnte eine Geistererscheinung doch Möglichkeiten eröffnen. Das Problem war, man konnte mit einem Geist nicht vernünftig reden. In Sachen Tante Tina konnte er, richtig eingesetzt, eine große Hilfe sein. Aber wie ihm das klar machen?
Alle wanderten auf die Wiese, um das Fenster mit dem Geist zu betrachten. Das Fenster hatte ein seltsames Farbenspiel. Offensichtlich sehr alte Scheiben, die Schlieren in Rosa, Lilablau, Weiß und ein wenig Gelb zeigten, aber Ezra konnte beim besten Willen keinen Mann mit Hut erkennen. Da sagte Ida neben ihm: „Er ist gerade nicht da. Er ist immer mal nicht da und kommt dann wieder.“ Ida hatte wohl seit längerem ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Hausgeist. Vielleicht konnte sie vernünftig mit ihm reden?
Es wurde ein rauschender Abend. Es floss viel Alkohol und Ihnen fiel rein gar nichts ein, wie sie sich ordentlich daneben benehmen konnten, weil es gefordert war. Schließlich brach Edmund in Tränen aus, weil ihm Alkohol immer traurige Gefühle machte. Er erzählte allen, dass an der Welt grundlegend etwas geändert werden musste, dass sie so kaum länger Bestand haben konnte, und Ezra erkannte das Potential in Edmund und man brachte ihn geeint vor Tante Tinas Tür. Dort versicherte ihm Ezra, dass hinter dieser Türe der richtige Ansprechpartner war, der wirklich etwas unternehmen würde. Edmund blickte ihn durch einen Tränenschleier an und weigerte sich. Der Alkoholpegel reichte doch noch nicht aus, dass er da hineingehen würde.
Die Musik war ziemlich laut. Man lud Tante Tina immer wieder ein, doch mitzumachen, aber hinter Tinas Fenster rührte sich nichts. Ida war schon sehr rosig und tanzte und prostete ihrem Geist im Fenster zu, - als die Anlage ausfiel.
Wolfgang machte sich auf, den Schaden zu beheben. Er verfolgte tatsächliche und vermutete Stromleitungen im Haus und Ezra hatte das Gefühl, dass der Geist genug von der Musik hatte. Er hatte von seinem Fenster aus die Anlage abgestellt, denn Wolfgang fand den Sicherungskasten intakt. Nichts ausgeschaltet. Wieso war die Anlage ausgefallen?
Wolfgang, Ezra und Esther gingen in den Keller. Vielleicht war dort das Problem? Der Keller roch eigenartig, vielleicht am ehesten nach Vanille. Sie versuchten, die Stromleitungen zu orten. Da hörten sie ein Scharren. Wer konnte das sein? Dann gab es platschende Geräusche. Es war eisig kalt. Ein Wasserwesen hier im Keller? „Habt ihr etwas gefunden?“, rief Wolfgang. Sie trafen sich wieder bei der Kellertüre. Neugierig gingen sie zur Wasserzisterne und fanden Hille unter Wasser. Sein Körper hing in dem in der Zisterne knapp unter dem Wasserspiegel. Alle drei starteten durch und hoben ihn leblos aus dem Becken. Er lag sehr kalt auf dem Beton, seine Lippen bläulich weiß. Drei entsetzte Augenpaare hielten ihn fest, suchten Spuren von Leben. Dann stürzten sich alle gleichzeitig über ihn und massierten seine Hände Füße…
Wolfgang presste Wiederbelebung in ihn hinein. Esther rannte nach oben, um eine Decke zu holen. - Da sprang die Anlage wieder an. Während sie die Decke im Arm nach unten lief, telefonierte sie mit der Rettung. Hille lag noch immer blass auf dem Boden, aber er schien zu atmen. Alle drei massierten seine Gelenke, da murmelte Hille: „Wer hat mich gestoßen?“ Sie wickelten ihn fest in die Decke und trugen ihn auf einem Brett nach oben. Als die Rettung kam, lag er dicht eingepackt im sommerwarmen Hof.
Der Hergang wurde hinterfragt. Wer konnte das wissen? Fest, viel getrunken, in die Zisterne gefallen. War das die Wahrheit? Es war eine Wahrheit, eine mögliche Wahrheit. Was waren die anderen?
Wer konnte Hille gestoßen haben? Ezra war verwirrt. Hille war einfach, Hille war harmlos, und er trank zu viel, immer. Er verlor regelmäßig seine Gleichgewichts-maschinerie, bei jedem Fest. Das wussten alle. Meistens fand man ihn am Ende des Abends jeweils an einem entlegenen Ort. Es war schon Routine, dass sie nach einem Besäufnis zu später Stunde vor dem Heimfahren Hille suchen gingen, um ihn unschädlich zu lagern. Sie wären auch heute gegangen, das wäre aber sicher viel zu spät gewesen. Für sie, für den Abend und für Hille. Ezra hatte einen kalten Rücken und einen feuchten Klumpen im Magen und einen riesigen Bedarf an Erklärungen. Wer wollte gerade Hille umbringen und wer hatte ihn gerettet? War der im ersten Stock fürsorglich und hilfreich? Hatte er die Anlage abgeschaltet? Oder war der Hausgeist bösartig und hatte er versucht, Hille zu ersäufen? Oder war Hille Opfer einer ganz anderen Person geworden?
Hille wurde ins nahe Unfallkrankenhaus gebracht und der Notarzt versicherte allen, dass sie gar nichts tun könnten. Morgen könnten sie nachfragen. Bedrückt gingen alle schlafen. Der Mond schien warm. Man öffnete die Fenster.
Der Schlaf dauerte bis halbsechs in der Früh. Dann brach ein Höllenlärm los. Zuerst gab es sehr laute Frühnachrichten, dann war das Schieben von Möbeln im Vorraum zu hören, mit Pumpern und Knirschen. Es wurden Nägel eingeschlagen. Und eine quietschende Türe im Hof etwa fünfzig Mal auf und zu gemacht. So fühlte es sich für Ezra zumindest an. Jedes einzelne Geräusch hatte ein Echo in den Gelenken, im Kopf, im Magen. Er tauchte in die Tiefe und wieder hoch und wieder in die Tiefe. Viele Male hatte er das Gefühl: Jetzt ist es vorbei. Jetzt kehrst du in die stille Landschaft zurück, die dich zärtlich aufnimmt. Und dann wieder hoch in die wild tosenden Wasser des Alltags, der etwas von ihm wollte. Er überlegte, ob er sich splitternackt mit dem Ungeist konfrontieren sollte, versprach sich aber schließlich nichts davon, vielleicht Kastration, aber keinen Sieg in seinem Zustand. In seidenweichen Blümchenshorts – einem Geschenk von Mutter – begab er sich teilweise reaktionsfähig aus seinem Schlafzimmer auf den Kampfplatz. Im Hof traf er auf eine große, runde Gestalt im Nachthemd, die gerade einen laut scheppernden Kessel an einem Seil in die Hofmitte zog.
„Was ist los?“, presste Ezra heraus, und es war eine Kunst, die Worte hochzubringen und den Rest unten zu behalten.
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