Ezra überlegte kurz und meinte dann: „Danke Hille, ich werde es Ida zeigen.“
Verdammt noch einmal, was hatte der wirklich gefunden? Normalerweise war Hille einfach und gradlinig. Nichts Hintergründiges an Hille, aber jetzt hatte er etwas bei Seite gebracht. Er würde dann in Hilles Taschen schauen müssen beim Duschen.
Der Brief war seltsam beunruhigend, auch wenn er eigentlich nichts damit tun konnte. Papier mit einer Drohung? Ein Brief voll Bedauern, aber auch voll Wut. Papier war in diesem Haushalt das Lebendige. Es wuchs, wurde feucht, wieder trocken, wellte sich und wurde vielleicht auch einmal verwendet. Es war die lebendige Seele in diesen Räumen.
Zurück zur Kredenz.
Wo würde jemand wohl einen Schlüssel verstecken?
Auf jeden Fall in Reichweite.
Man kann nicht jedes Mal durch die ganze Wohnung laufen, wenn man in die Küchenkredenz muss.
Ezra blickte um sich und sah drei Stellagen und ein großes, breites weißes Ding, von dem er keinen Namen wusste. Nicht zu vergessen Tisch und Herd. Beide verfügten über eine Lade. Würde die alte Ida etwas in die untere Herdlade geräumt haben? Die gingen meist schlecht auf und waren sehr unbequem, so weit unten. Aber vielleicht wollte sie es den Einbrechern schwer machen?
Auf jeden Fall war weder in der Herdlade noch in der Tischlade ein Schlüssel. Die Stellagen schienen ihm zu offen, zu zugängig. Schlüssel wurden nicht in Freiheit gehalten. Sie mussten tief drin in Laden und in Gefäße gesteckt werden, ganz sicher, mit festen Türen. Frischluft wäre für versteckte Schlüssel sehr gefährlich. Also machte er sich an das große, breite, weiße Ding. Es war aus solidem Holz, musste mehrere Hundert Kilo haben. Etwa wie ein kleiner Eisenbahnwaggon. Beim Hineinsehen entpuppte es sich als eine alte Spüle. Man konnte die obere Platte aufklappen, und da gab es zwei Gusseisenkessel. Ezra klappte die Platte hoch, aber das war Schwerarbeit. Die alte Ida konnte das nicht mehr gestemmt haben. Er holte seine Taschenlampe und lugte hinein, da war auch nichts zu sehen. Er öffnete die Türen unten. Natürlich konnte ein so schöner Raum in diesem Haushalt nicht unverwendet bleiben. Am Boden unter den Kesseln hatte sich Papier angesammelt. Viel Papier. Erfahrung mit den anderen Räumen hatte ihm gelehrt, keine mögliche Ablage außer Acht zu lassen. Seine Hand tastete vorsichtig an dem Eisengrat entlang, der neben den Kesseln lief. Da lag ein Schlüssel. Es lag da aber noch etwas in einem Säckchen. Darin war eine Perlenkette, dazu passende Perlenohrringe und ein Brief. Es war ein alter Brief. Das Papier hatte Flecken der Zeit. `- rücksichtslos . Dieses Geschenk soll dir Tränen bringen. Vielleicht bringt dich das dazu, einmal wahrzunehmen, wer die Menschen sind, mit denen du lebst. Einzigartige Möglichkeit zu einer Pause der Herrschaft, und dann erfährst du das, was du immer schon hättest wissen sollen ´……. Ein seltsames Geschenk? Eine Verwünschung? Wer sollte eine Pause der Herrschaft machen? Wer verlangte das von wem?
Esther und Ida sahen gerade das zwanzigste Haus an.
Ida wünschte sich jetzt dringend ein Haus. Sie fand immer neue Gründe, warum ihr dieses oder jenes Haus wert schien, gekauft zu werden. Die Butzenscheiben in der Türe zum Hof. Der schöne Nussbaum vor dem Haus, der eingefriedete Gemüsegarten. Esther hatte das Praktische im Auge. Den nassen Keller, die Nähe zur Autobahn, den verwurmten Dachstuhl. Jetzt standen sie vor einem Anwesen, das „der Jaidhof“ hieß. Es war ein großes Anwesen und hatte seit Jahren zum Verkauf gestanden, zu einem Fixpreis. Dieser Fixpreis war vor Jahren teuer gewesen, jetzt war er normal.
Esther hatte neu gelernt, dass wenig finanzielle Einschränkungen zu beachten waren. Ida hatte ihr Zugang zu allen Konten übertragen, nur wusste sie nicht, welche Konten es gab. Während Esthers Engagement in ihrer alten Firma im Auslaufen war - sie hatte noch Resturlaub - hatte sie sich umfassend mit den Aufgaben eines Steuerprüfers auseinandergesetzt und sich in mühsamer Kleinarbeit über die Finanzlage klug gemacht.
Außer den Einkünften aus der Fabrik und einigen Tochtergesellschaften an entfernten Orten gab es Gelder, die sich unbeobachtet seit mehr als zwanzig Jahren durchs Finanzsystem geschlängelt hatten. Es waren immer neue Konten aufgetaucht. Eine Bankverbindung in die Schweiz, noch vom alten Aaron, und ein Konto in Lichtenstein, auch vom alten Aaron eingerichtet. Keine Kontobewegung seit über zwanzig Jahren. Dort schlummerten Riesensummen vor sich hin und mussten noch mit Idas Unterschriften umgelagert werden. Mehrere Bankschließfächer gab es. Esther war absolut unsicher, dass sie alle gefunden hatte. Manche enthielten gar nichts, manche Aktien. Eins hatte Zertifikate in großen Paketen, die auch mindestens zwanzig Jahre dort geschlummert hatten. Sie waren inzwischen völlig wertlos. Aber eines der Depots hatte eine große Schmuckschatulle enthalten, in der auch ihr Zauberring war. Sie musste Ida bitten, dass sie ihn haben durfte.
Jetzt standen sie vor einer Ansammlung sehr gerader Häuser. Es war so etwas wie ein alter Meyerhof. Mächtig, selbstbewusst, abweisend. Die Gebäude sahen nach dicken Wänden aus. Hinter der Eingangstüre stellte Esther fest, dass die Außenmauer einen Meter zwanzig tief war. Draußen war es warm, in der Sonne heiß. Drinnen fühlte es sich kalt an, frostig. Ida schlenderte hinter Esther her und betrachtete den steinernen Boden. Dann drehte sie sich um und ging wieder hinaus. Esther schaute kurz in die riesige Wohnküche und in eine mächtige Speisekammer. Dann ging sie auch wieder hinaus. Ida stand versunken vor dem Haus und betrachtete die Fenster im Oberstock.
„Was meinst du?“ fragte Esther.
„Schau einmal, die Fenster da oben.“ Die Fenster glitzerten seltsam, das alte Glas bildete farbige Muster. In der Sonne zeigten sich glänzende Schlieren. Ida hatte wieder etwas gefunden, warum sie dieses Haus kaufen wollte.
Esther drehte sich um und ging auf ihre Vernunfttour.
Im Gang legte sie die Hand auf die Wände. Sie waren nicht fühlbar nass. Keine weißlich pelzigen Gewächse wie letzter Schnee auf dem rauen Putz. Im ersten Stock waren ein großer Vorraum und sehr viele Türen zu Zimmern, die sie jetzt nicht anschauen musste. Eine wacklige Treppe führte aufs Dach. Sie öffnete eine löchrige, enge Türe und stand in einem Riesendachraum, gewaltig, drei Stockwerke hoch. An Schnüren sah sie noch einige Tabakblätter, die Reste der letzten Ernte vor vielen Jahren. Sie betrachtete die Balken genau. Keiner schaute verfault aus. Die breiten Holzbohlen unter ihren Füßen waren auch nicht verfärbt. Es schien keine Löcher im Dach zu geben, es würde keine große Renovierung zu erwarten sein. Riesige schwere Balken ohne Fehler.
Esther wanderte in den Keller.
Der war völlig leer und schien einfach aus Beton zu sein, besenrein. Keine nassen Wände, leer. Nur in einem der vielen Räume gab es eine mächtige Wasserzisterne. Groß und rund, wie ein Schwimmbecken. In etwa einem Meter Tiefe konnte man einen weißlichen Kalkbelag sehen. Das Becken war in den Boden eingelassen. Der Rand ragte nur etwa sechzig Zentimeter hoch.
Als sie wieder nach oben kam, war Ida nicht da.
Esther sah in der Nähe einen anderen Bauernhof. In der Hoffnung auf Information wanderte sie dorthin. Ida würde warten.
Sie öffnete das knirschende Hoftor und rief einen Gruß. Keine Antwort. Als sie hineinging, sah sie eine alte Frau, die sich die Füße in einem Plastikbecken wusch. Esther ging zu ihr. Die Frau sah von der Nähe gar nicht so alt aus. Aber sie blickte nicht auf.
Esther grüßte und bekam keine Antwort. Vielleicht hörte die nicht?
Aber Esther probierte es hartnäckig noch einmal: „Wir überlegen, das Anwesen neben ihnen dort drüben zu kaufen. Ich hätte gerne gewusst, mit welchen Problemen sie hier so täglich zu kämpfen haben?“
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