Sie hob vorsichtig einen kostbaren Seidenvorhang vor einer Etagere auf. Dort stand in Tante Idas eckiger Schrift `Fetzen zum Wegwerfen´. Sie ließ den Vorhang vorsichtig zu Boden gleiten. Neben der Küche war ein palastartiges Badezimmer aus weißem und schwarzem Marmor. Hier stand in großen Körben Wäsche, viel Wäsche. Auf mehreren Sesseln und kleinen Tischen lagen hohe, wackelige Stöße von Katalogen. Eine Wand war mit Plastikbehältern zugestapelt. Sie waren voll. Die hatte es beim letzten Mal noch nicht gegeben. Unter dem Waschbecken wurden Zeitungen gesammelt. Viele Zeitungen. Sie waren in den Jahren zu drei Stößen von je einem halben Meter angewachsen, gelegentlich durchfeuchtet, hatten sie sich zu einer Masse zusammengebacken, leicht gelblich, mit gewelltem Rand. Drei Kästen enthielten Kartons mit nie verwendeten Föhnen, Super-Haarstyling-Sets, Kerzenleuchtern und Schwimmreifen, Badematten usw.
Und wieder kam der Schrei. Scharf und panisch drängte er sich vor. Eine Mahnung an das Leben. Sie spürte ihn eiskalt im Nacken.
Er hallte von den Bergwänden wieder, war aber neben ihr im Badezimmer und war sehr stark. Viel stärker als der kleinen Brust von Tante Ida zuzutrauen gewesen wäre.
Die nächste Türe hatte früher ins Schlafzimmer geführt, - in einen mächtigen, ziemlich düsteren Raum, wie sie sich erinnern konnte. Es schien weiterhin Schlafzimmer gewesen zu sein. Das gewaltige Doppelbett stand auf einer Stufe und beherbergte Puppen. Sie füllten das Bett. Wo sollte da jemand schlafen? Alle hatten teure Gewänder an und glupschten mit ihren gläsernen Augen aus den Falten der Spitze und des Brokates. Einige waren sorgfältig zugedeckt und saßen dicht nebeneinander, fest eingepackt zwischen Decke und Polster, sie steckten fest in ihrem Kokon. Einige waren perfekte Babyrekonstruktionen, die Esther die Gänsehaut über den Rücken jagten. Tote Babies, die wie lebendig aussahen. Andere waren kleine Mädchen in schönen Kleidern. Es gab keine kleinen Jungen.
Der Rest des Raumes war voll mit Kartons und Truhen, übereinander gestapelt. Es gab noch mehr Puppen, vielleicht nicht die bevorzugten, nicht die Elite, denn sie waren nicht im Bett. Sie hatten aber auch kostbare Gewänder an. Einige Teddybären lagen herum und schauten aus den Kästen, vielleicht die Haustiere?
Das war wohl der Raum, in dem die wesentlichen Dinge aufbewahrt wurden. Sie würde hier ihre Suche beginnen. Zuerst wollte sie nur kurz durch die anderen Räume schauen. Es gab noch zwei große Zimmer. Das neben dem Schlafzimmer war toter Raum war nie benützt. Es hatte den leicht modrigen Zustand unbenützter Herzeige-Zimmer, in denen lange kein Leben vorbeigekommen war. Die Spitzendeckchen vergilbt, und alles von mumifiziertem Staub bedeckt, gewaltige Kristallschüsseln, die ihre Fracht an Haarnadeln, Glückwunschbillets und einzelnen Ohrringen behüteten, und rundum war bis an die Decke Gestapeltes.
Esther hoffte sehr, dass in diesem Zimmer nichts versteckt war, aber sicher konnte sie nicht sein. Sie schaute nur kurz ins letzte Zimmer. Dort wenigstens war kein Schmuck verborgen in dunklen Ecken.
Ein völlig anderer Raum. Ein anderer Mensch. Es war in Weiß mit wenig Hellblau gehalten und absolut rein. Hier gab es kein Papier, keine Lager von irgendetwas. Das Zimmer leistete Widerstand gegen die Welt der restlichen Wohnung. Das war schon immer so gewesen. Das Zimmer der kleinen Ida.
Esther wanderte wieder ins Schlafzimmer, krempelte sich seelisch die Ärmel auf und hob den Deckel einer chinesischen Truhe. Sie hatte Visionen von kompostierten Liebhabern aus jungen Jahren, deren mumifizierte Körper hier aufbewahrt wurden. Sie musste sich disziplinieren, um den Blick hinein zu versenken. Tante Idas Geist schaute über ihre Schulter. Am Grunde lag ein Hut, sonst nichts. Ein angenehmer Geruch von Sandelholz stieg auf.
Beim Rundblick stach ihr eine Holzkiste mit der Aufschrift einer Waffenfirma aus dem zweiten Weltkrieg ins Auge. Sie fühlte sich davon angezogen, die Kiste war verdächtig. Sie hob sie aufs Bett. Drin war ein Medikamentenlager gewaltigen Ausmaßes. Auch das hatte sich nicht geändert. Sie setzte sich aufs Bett, die Puppenaugen im Rücken. Sie öffnete jede Packung, jedes Döschen, leerte den Inhalt in die Hand und dann in einen großen Sack, der neben ihr stand. Aus der Aspirin-Packung rollte ihr ein Brillantring entgegen. Eine mit Rubinen besetzte Uhr gab‘s beim Kamillentee. Wo war nur der Aquamarin? Ihr Zauberring.
Esther betrat ein Hotelzimmer, in der Hand ein Nylonsäckchen mit Schmuck. Das legte sie aufs Bett und begann sich auszuziehen, als ob ihr die Kleidung lästig wäre. Sie steckte den blassen Schal in den Papierkorb und hängte den blaugrauen Mantel an die Türe. Sie würde ihn zur Caritas bringen. Dann holte sie das neue Stück aus dem Kasten – ihren Traumschlafrock, rot, prächtig, aber völlig unpassend für einen Todesfall.
„Ida! Schaust du dann mal, was ich alles gefunden habe?“
Die `kleine´ Ida saß im Bett und hatte einen Puppenkopf in der Hand, den sie bemalte. „Das mach ich ihr zu Ehren.“, meinte sie und schaute intensiv in das Puppengesicht. Esther lächelte. „Es waren ziemlich viele im Schlafzimmer.“
„Ja, wie die von Engeln umgebene Madonna hat sie dort gelebt. Ihre Begleiter, Kinder, Diener, alles in einem waren die Puppen.“
„Schaust du trotzdem? Ich glaube, es fehlt noch Schmuck. Ich fürchte, ich muss noch einmal gehen.“
„Ich hab keine Ahnung. Hast du in den Medikamenten geschaut?“ fragte Ida zerstreut.
„Ja, da habe ich das alles gefunden, aber ich weiß nicht, ob es noch mehr gibt. Warum hat sie die Sachen eigentlich immer in die Medikamente gegeben?“
„Hat sie ja nicht“ murmelte Ida voll auf den Puppenmund konzentriert. „Waren auch mal zwischen den Büchern. Wir hatten immer Suchaktionen, wegen der Einbrecher.“
„Welche Einbrecher?“
„Sie hat‘s vor eventuellen Einbrechern versteckt, aber irgendwie nicht immer am gleichen Ort. Ich nehme an, sie wollte den Gewöhnungseffekt bei den Einbrechern vermeiden.“
„Hattet ihr denn einen Einbruch?“
„Nein, das wäre, glaube ich, schwierig geworden.“ Ida war nicht bei der Sache. Sie war sehr auf den Puppenkopf konzentriert, zu sehr. Ida wollte keine praktischen Probleme.
„Ich hab zwischen den Büchern geschaut. Gab es ein besonderes Regal?“
„Weiß nicht“ murmelte Ida. Sie malte gerade eine Braue. “Hast du den Urlaub schon gebucht? Auf den Bildern im Internet sieht man sicher, ob das Hotel rote Teppiche hat. Ich weiß eigentlich nicht, warum rote. - Sie können natürlich nicht mausgrau sein, und dunkelblau ist noch schlimmer.“
„Ida, mein Schatz, ich kann das nicht alles ausräumen. Die Wohnung hat 180 m 2und ist über vier Meter hoch, ich kann das nicht schaffen.“ Esther fühlte die Übermacht der Notwendigkeit, ein flaues Gefühl im Magen und Kreuzschmerzen beim Gedanken an die Herausforderung.
Ida malte die Braue mit großer Sorgfalt und wischte sie dann weg. „Wie kommst du drauf, dass du das machst?“
„Nun, wer sonst?“
„Ich weiß nicht“, meinte Ida und setzte den Pinsel mit großer Sorgfalt an.
Esther kam unter Druck. Sie musste eine Lösung finden. Ganz dringend eine Lösung. Die Wertsachen mussten heraussortiert werden aus dem allen, aus dem Berge Sinai. – Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen, fiel ihr ein. Nur, wo waren ihre hilfreichen Tauben? Sie lief beunruhigt im Kreis. `Selber machen´ stand in großen Lettern über ihren Gedanken, weil das immer dort stand. Allein schon der nebelhafte innere Vorwurf machte sie wütend. Sie wollte sich nicht wie ein Maulwurf durchgraben und nach Wertsachen in irgendwelchen Ritzen schnüffeln! Sie war dem Weinen nahe, aber keine Lösung in Sicht.
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