Ich blicke mich nach allen Seiten um, weil mir diese ganze Situation plötzlich ein eigenartiges Gefühl in mir auslöst, steige aber trotzdem in das Auto.
Als hätte ich meine Besorgnisse laut ausgesprochen, äussert sich Damian Meyer leise dazu, der nun neben mir im hellen Lederpolster sitzt. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überfallen.“ fragt er mich, sobald sich die Limousine in Bewegung gesetzt hat.
„Warum trägt Ihr Fahrer eine Waffe?“
„Verunsichert Sie das?“
„Vielleicht ein wenig.“ gebe ich ehrlich zu.
„Er trägt sie für meinen Schutz.“
„Benötigen Sie denn so was?“
„Bis jetzt war es nicht nötig. Aber man sichert sich lieber im Voraus ab. Stört es Sie?“
„Nein.“ Auch wenn ich versuche meine Unsicherheit zu verbergen, so klinge ich nicht sehr überzeugend. Ich kann meinem Chef nicht in die Augen sehen und blicke daher aus dem schwarz getönten Fenster. Der Rolls Royce, dessen gemütlichen Polster und jeglichen Komfort, welches dieses Schiff auf vier Rädern bietet, ich kaum wahrnehme, rollt leise über die Londoner Strassen.
Die Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond ist geschlossen und somit der Chauffeur weder zu sehen noch zu hören. Es ist still im Auto. Nur mein schneller Atem ist zu hören. Ich bete, dass Damian das heftige Pochen meines Herzens nicht bemerkt, das kurz vor einer Panikattacke steht. Ich versuche mich zu beruhigen, aber das ist nicht so einfach, wie man sich das manchmal wünscht.
Verzerrte Erinnerungsfetzen, die noch kein Jahr alt sind, schleichen sich in meinen Kopf und drängen sich langsam immer weiter nach vorne.
Ich dachte ich wäre über das Schlimmste hinweg, doch soeben werde ich eines Besseren belehrt, während sich mein Puls immer mehr beschleunigt.
„Jessica?“
Leise dringt mein Name in mein Ohr. Langsam, wie in Zeitlupe, drehe ich mich zu ihm um. Er sieht mich besorgt und ratlos an.
„Jessica?“ Nie hat mein Name so schön geklungen, wie aus seinem Mund. Es klang beschützend und vielversprechend. „Ist alles in Ordnung? Sollen wir umdrehen oder anhalten?“ Seine tiefe, starke Stimme legt sich wie eine feste Umarmung um mich, in die ich mich gerne fallen lassen würde. Noch nie in meinem Leben habe ich mir etwas sehnlicher gewünscht, als von diesem Man gehalten zu werden. Ich verspüre den Wunsch zu weinen. All den unvergossenen Tränen freien Lauf zu lassen und trotzdem kämpfe ich gegen dieses mächtige Verlangen an und blinzle sie zurück.
Seine Augen bohren sich in meine. Unfähig etwas zu sagen oder zu tun, erwidere ich seinen Blick in der gleichen Intensität, wie er mich betrachtet. Eine gefühlte Ewigkeit sehen wir uns an, ohne dass irgendwer irgendwas unternimmt, bis er eine Hand nach mir ausstreckt und mich ohne Vorwarnung an sich zieht. Ich lasse es einfach geschehen und lege meinen Kopf an seine harte Brust. Er schliesst seine muskulösen Arme um mich und zieht mich noch näher an sich. Ein lautes, befreiendes Wimmern dringt aus meiner Kehle, das ich nicht aufhalten kann. Sowie die Tränen, die nun über meine Wangen laufen.
Über mehrere Monate hinweg durfte mich kein Mann mehr berühren. Nicht einmal mein Vater. Warum muss es ausgerechnet mein Chef sein, der mich halten darf? Der mich fest an sich drückt und ich dabei seinen beruhigenden Herzschlag hören kann? Warum fühlt sich seine Hand auf meinem Rücken, die mich sanft streichelt, so unglaublich beschützend an?
Als ich mich wieder gefangen habe, löse ich mich vorsichtig aus seinen Armen. Er reicht mir ein weisses Taschentuch womit ich die salzige Spur meiner Tränen auf dem Gesicht wegwischen kann. Unfähig ihn anzusehen, blicke ich verlegen auf meine Hände, die gefaltet auf meinem Schoss liegen, dazwischen das zerknüllte Taschentuch.
„Geht's wieder?“
„Ich denke schon.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
„Wollen Sie weiterhin mit mir essen gehen oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir Sie nach Hause bringen?“
Mein Magen knurrt verdächtig laut und wir brechen beide in ein herzhaftes Lachen aus.
„Ich nehme das als Antwort.“ meint er, als wir uns wieder erholt haben.
Er stellt mir keine Fragen. Sieht mich nicht bemitleidend an. Sondern sitzt nur ruhig neben mir, so als wäre vorhin gar nichts gewesen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, auch wenn mir ganz bewusst ist, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem er mich über meine Vergangenheit ausfragen wird.
Wir sitzen in einer gemütlichen Ecke einander gegenüber. Draussen ist es noch immer düster. Zum einen, weil das Restaurant beinahe von einem Wald, der um das Gebäude steht, verschlungen wird und zum anderen, weil sich der Nebel noch kein bisschen gelichtet hat, was heute wahrscheinlich auch nicht mehr geschehen wird.
Seit ich in London bin, habe ich keinen richtigen Wald mehr gesehen und würde gerne in diesem hier spazieren gehen und die frische Luft der Natur einatmen. Vielleicht habe ich ja irgendwann die Gelegenheit wieder hierherzukommen.
Ich fühle mich satt und wohl. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, was schlussendlich ein richtiges Menü war und nicht nur eine Kleinigkeit. Die Atmosphäre ist angenehm entspannt. Nicht zu laut. Nicht zu ruhig. Der Speisesaal nicht zu leer und nicht zu voll. Genau richtig für unser Beisammensein.
Damian Meyer und ich sitzen bereits seit über zwei Stunden in diesem Lokal und unterhalten uns immer noch angeregt über Gott und die Welt. Ich bin wirklich erstaunt, wie locker mein Chef mit mir als seine Mitarbeiterin umgeht. Als Mensch und auch als Vorgesetzter ist er eine beeindruckende Person. Er stellt sich nicht höher als seine Angestellten, was mich mit sehr viel Bewunderung zu ihm aufsehen lässt.
Beinahe vergesse ich sogar jenen Vorfall in seiner Limousine. Aber nur beinahe. Mit keinem Wort hat er davon angefangen. Keine Bemerkung, keine Frage. Nichts. Auch hat er mich nicht über mein Privatleben ausgefragt. Was ich auch bei ihm niemals getan hätte, obwohl ich seltsamerweise liebend gern etwas mehr über ihn erfahren würde. Was seine Freizeitbeschäftigungen sind. Welche Bücher, welche Filme er liebt. Wo er aufgewachsen ist. Es gibt so viel, was ich ihn gerne fragen würde und doch halte ich mich zurück. Er akzeptiert meine Verschwiegenheit, also werde ich auch seinen Wunsch tolerieren.
„Ist es dir unangenehm, wenn ich dich mit Jessica anspreche?“ Er lehnt sich etwas nach vorne, legt seine Arme auf den Tisch und sieht mir dabei offen ins Gesicht. Wahrscheinlich nimmt er all meine Regungen wahr, während ich über seine Frage nachdenke.
Seit er mich im Auto das erste Mal mit meinem Vornamen angesprochen hat, hat er nicht mehr damit aufgehört, mich so zu nennen.
„Warum sollte es mir unangenehm sein?“
„Weil du dann jedes Mal einen befangenen Ausdruck in deinen Augen bekommst.“
Ich bewege langsam meinen Kopf hin und her, aber mein Blick ruht weiterhin in seinem. „Es ist...“ Ich senke meinen Kopf. Ich kann ihm nicht länger in die Augen sehen. „Es ist mir nicht unangenehm. Ich finde es sogar sehr tröstlich, wenn ich meinen Namen aus Ihrem Mund höre.“
Nichts. Stille. Verkrampft halte ich die Kaffeetasse in meinen Händen. Ich traue mich nicht in seine Richtung zu sehen, sondern starre weiter auf das weisse Tischtuch mit den lachsfarbenen Blüten und schliesse dann meine Augen.
Erschrocken reisse ich sie wieder auf, als ich seine Finger an meinem Kinn spüre, die mich zwingen ihn anzusehen. Kein Lächeln umspielt seine Lippen, aber einen Augenblick glaube ich einen inneren Kampf in seinen Augen zu lesen.
„Es wäre nur fair, wenn du mich Damian nennen würdest. Oder?“ Seine Finger hinterlassen eine leere Stelle an meinem Kinn, als er sie zurückzieht.
„Damian.“ hauche ich kaum hörbar. Bereits seit unserer ersten Begegnung nenne ich ihn im Stillen so. Ich musste mich schon mehrmals zusammenreissen, damit ich ihn nicht vor Rose oder Mira so anredete und jetzt bietet er mir an, ihn mit seinem Rufnamen anzureden. „Sehr gerne, Damian.“
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