Blick in den Hof. Schweine hatten sie nicht mehr.
In alle Winkel und Ecken schaute ich, öffnete die Türen und blickte in die Ställe hinein – und stand plötzlich vor einem halben Hakenkreuz im alten Kuhstall. Exakt, wie mit einer Schablone hatte es jemand genau der Tür gegenüber an die Wand gemalt. Mindestens einen Meter hoch war es einmal gewesen. Zu sehen war nur noch die untere rechte Hälfte, das obere Stück war frisch verputzt, vermutlich war der alte Lehmputz heruntergefallen, und das Loch ist ausgebessert worden. Meine Ernüchterung war groß. Nichts mehr war übrig von lehmiger Nostalgie und Heimatgefühl. Die Vergangenheit hatte mich unverhofft eingeholt.
Hakenkreuz im Kuhstall
Wer hatte das dahin gemalt? Und warum war es, 46 Jahre nach Kriegsende, noch nicht beseitigt worden, obwohl doch spätestens die Ausbesserungsarbeiten einen guten Anlass dazu gegeben hätten?
Die Vermutung liegt nahe, dass meine beiden Onkel, damals junge Burschen von einundzwanzig und neunzehn Jahren, das Zeichen des Österreichers in den Kuhstall gemalt haben. Beide waren im Juli 1941, gegen den Widerstand ihrer besorgten Eltern, zu einem „Schulungskurs“ oder „Sportlehrgang“ nach Brünn mitgefahren, den die Deutsche Jugend (DJ) organisiert hatte. Dort ließen sie sich aufgrund der Einflüsterungen und Versprechungen von Himmlers Agenten, die ihnen für den Beitritt zur Waffen SS die deutsche Staatsbürgerschaft versprachen, zu diesem Schritt verführen. Nach einer militärischen Kurzausbildung von sechs Wochen kamen sie direkt an die Karelische Front. Vom Februar 1942 an erfolgte die Rekrutierung der ungarndeutschen Wehrpflichtigen auch schon direkt zur Waffen-SS.10 Der ältere der beiden Brüder war schon nach drei Monaten tot, zerfetzt von einer sowjetischen Granate bei Borok nahe der finnisch-russischen Grenze. Der Jüngere ist seit November 1941 in Karelien vermisst. Er ist von einem Angriff auf einen Bahndamm in der Nähe Loukhi nicht mehr zurückgekommen. Einer seiner Kameraden aus Perbál berichtete später, er habe einen Bauchschuss erhalten, konnte aber wegen des anhaltenden Feuers der Russen nicht geborgen werden. Stundenlang schrie er um Hilfe und verblutete hilflos im tiefen Schnee. Er wurde nicht begraben. Die beiden jungen Männer haben ihren Einsatz für eine von ihnen vielleicht herbeigesehnte Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit ihrem jungen Leben bezahlt. Dort hofften sie, frei vom Magyarisierungsdruck ihres ungarischen Vaterlandes leben zu können. Tausende andere junge ungarndeutsche Männer erlitten das gleiche Schicksal. Sie starben, weil ihr Vaterland Ungarn sie ihrer deutschen Identität berauben wollte. Bekennt euch als Ungarn oder verschwindet!
Ein „Sportlehrgang“ in Brünn
Hier sahen die Agenten Himmlers eine Chance für ihre zunächst noch illegale Werbung. „Es wurden zum Beispiel junge gesunde und politisch zuverlässige Volksdeutsche…zu Schulungskursen, HJ-Lagern oder Sportlehrgängen nach Deutschland eingeladen und dort zum freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS überredet. Nur die wenigsten von ihnen hatten damals eine Vorstellung von der gefährlichen Bedeutung dieses Schrittes. … vor allem aber das Bewußtsein, in der Waffen-SS anders als in der Honvéd (ungarischen Armee d.V.) als gleichwertig zu gelten, … erleichterte den jungen Volksdeutschen den Übertritt.“11
Konnten diese ungebildeten Bauernburschen ahnen, dass die Waffen-SS nicht nur Hilfstruppe der Wehrmacht bei ihren mörderischen Eroberungskriegen war, sondern zentraler Bestandteil der Judenvernichtung wurde? Vermutlich nicht. Hatte man ihnen nicht vorgegaukelt, dass sie in der Waffen-SS im Überlebenskampf der germanischen Rasse gegen den jüdischen Weltbolschewismus auf der richtigen Seite kämpfen würden? Unterlagen sie schließlich dem Mythos und der Glorie von schnellen, beinahe kampf- und opferlosen Siegen im Blitzkrieg? Meine beiden Onkel hatten ihren Verführern Glauben geschenkt. Bevor sie ihren unbedachten Schritt hätten bereuen können, waren sie tot.
Mit diesen Ausführungen will ich nichts beschönigen oder rechtfertigen. Ihren Schritt haben sie selbst zu verantworten und teuer bezahlt. Viele junge Männer, viel zu viele, sind der Nazipropaganda aus Überzeugung gefolgt. Fotos von den Aufmärschen der „Deutschen Jugend“ (DJ) belegen das. Ihre ausgestreckten rechten Arme unterscheiden sich nicht von denen der Hitlerjugend (HJ).
Andere haben sich einer Bewegung angeschlossen, die die Treue zum ungarischen Staat propagierte (Treuebewegung). Deren Mitgliedschaft blieb jedoch relativ gering. Wieder andere meldeten sich zur Ableistung ihrer Wehrpflicht zur ungarischen Armee. Nach dem Abkommen vom 1. Februar 1942 wurde die Musterung von einer deutsch-ungarischen Kommission durchgeführt. Dem Wehrpflichtigen blieb formal noch die Wahl zwischen Honvéd (Ungarische Armee), deutscher Wehrmacht und Waffen-SS. Ein Abkommen vom 1. Juni 1943 erweiterte den Kreis der Gemusterten auf „Freiwillige bis zu 35 Jahren“. Der Druck auf die „Freiwilligen“ zum Eintritt in die Waffen-SS wuchs dabei ständig. Letztlich unerheblich wurden diese Differenzierungen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn (14. März 1944).
Einen Monat später kam es zu einem deutsch-ungarischen Abkommen, „danach wurden alle ungarischen Staatsbürger, die Deutsch als Muttersprache bei der Volkszählung 1941 angaben oder ‚durch ihre Lebensweise und ihr Volkstum Merkmale als solcher zeigten‘ der SS überstellt … In manchen Fällen veranstalteten die SS-Werbekommandos regelrechte Treibjagden: Auch die ungarische Polizei half bei der Zwangsrekutierung: Entziehen konnte sich kaum jemand.“
Der Verfasser, Krisztian Ungváry, weist darauf hin, dass zur Verteidigung Budapests zwei SS-Divisionen und drei SS-Polizeiregimenter aus Ungarndeutschen sowie zwei weitere Divisionen mit hohem Anteil von Ungarndeutschen aufgestellt wurden. „Außer der zuletzt genannten wurden all diese Einheiten in und um Budapest eingesetzt und vernichtet.“12 Er verweist auch darauf, dass die Zivilbevölkerung der deutschen Dörfer bei diesen Kämpfen hohe Verluste erlitt. Diese Angaben sprechen für sich: Als Kanonenfutter zur Verteidigung ihrer Hauptstadt, die Hitler zur Festung erklärte hatte, kamen die ungarndeutschen Soldaten und Zivilisten gerade recht. Die Zahl der zur Waffen-SS eingezogen Ungarndeutschen ist umstritten. Ende Dezember 1943 sollen es 22.125 gewesen sein.13
Zwei Briefe
Ein Brief, den der Kompaniechef, Anton Stehm, an die verzweifelten Eltern ihres jüngsten Sohnes Franz schrieb, lautet wie folgt:
Im Felde, 19.11.1941
Geehrter Herr Wieszt!
Ich habe die unangenehme Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass ihr Sohn, SS-Schütze Franz Wieszt seit den Kampfhandlungen des 16.11.1941 in den karelischen Wäldern ostwärts Kristinki vermisst wird und bis jetzt noch nicht zur Einheit gestoßen ist. Wenn ich auch die Überzeugung habe, dass er vielleicht doch noch sich irgendwo einfindet, muss doch mit seinem Tode gerechnet werden. Bedingt durch das nächtliche Abwehrgefecht und durch die sehr schwierigen Geländeverhältnisse ist es uns nicht möglich gewesen, bei den Kompanieangehörigen irgendwelche Aufklärungen zu erhalten. Sollten sich aus den weiteren Nachforschungen irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, so werde ich Sie sofort benachrichtigen. Ihr Sohn hat in der kurzen Zeit, die er erst unserer Einheit angehört, bereits die Achtung seiner Kameraden erworben. Er zeigte sich bei den Angriffen der letzten Tage als tapferer Deutscher.
Heil Hitler Ihr Stehm
SS-Gruppenführer und Kompaniechef
Dieser Herr hätte zutreffender schreiben sollen, dass er sich bei den Angriffen der letzten Tage als „dummer Deutscher“ gezeigt hatte. Ist es nicht so gewesen, dass sich dieser verführte Junge vor seinen reichsdeutschen Kameraden hervortun wollte und vorwärtsstürmte, während die sich bedeckt hielten? Richtig jedenfalls ist, dass die Soldaten aus den deutschen Minderheiten der eroberten Länder von ihren „echten deutschen“ Kameraden als „Beutegermanen“ verspottet wurden.
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