Auf den Kanalinseln gibt es keine Massenerschießungen von Geiseln, und selbst die Repressalien sind im Vergleich zu den Menschheitsverbrechen von SS und Wehrmacht in anderen Teilen Europas weniger dramatisch, dabei aber keineswegs harmlos. Auch auf den britischen Kanalinseln werden zwischen 1940 und 1945 Juden verfolgt, Einwohner deportiert und sterben Hunderte Zwangsarbeiter 67. Die Deutschen verwickeln biedere und mit der Situation überforderte Beamte, aber auch viele Inselbewohner in einen Zwiespalt zwischen Widerstand und Überlebenswillen, der manche, aber keineswegs alle Insulaner in die Grauzonen von Kollaboration und Kooperation führt. Der Mikrokosmos der deutschen Okkupation der Channel Islands im großen Makrokosmos des Zweiten Weltkriegs verdient es, auch in Deutschland, im Land der Täter und ihrer Nachfahren, genauer betrachtet zu werden. Es gibt dabei vielleicht aus englischer, ganz gewiss aber aus deutscher Sicht keinen Grund, sich die Jahre 1940 bis 1945 auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney ›schönzureden‹.
Hans Max Freiherr von und zu Aufseß (1906–1993)
Hans Max Freiherr von und zu Aufseß ist vielleicht ein Stück weit, aber sicherlich nicht ganz und gar der ›gute Deutsche‹, als der er sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern darzustellen versucht und als der er in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg auch in englischen Publikationen geschildert wird. Als Teil eines Besatzungsregimes gehört er zu den Mittätern, wobei der Begriff des ›Täters‹ selbstverständlich differenziert werden muss. Freiherr von Aufseß ist kein Mörder, aber ein Rädchen im Getriebe eines Mordapparats.
Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Menschen der Vergangenheit mit erhobenem moralischen Zeigefinger zu beurteilen und ihnen ihre Schwächen vorzuhalten. Doch der Mühe einer kritischen Einordnung in den historischen Kontext und einer Abwägung der Handlungsmöglichkeiten und -spielräume, die diesen Menschen in schwierigen, potentiell verbrecherischen Umständen zur Verfügung standen, sollte man sich als Historiker doch unterziehen. Das gebietet schon allein der Respekt vor den Subjekten der Untersuchung. Folgt man aber der einzigen umfassenderen deutschsprachigen Biographie, die 2015 in den ›Fränkischen Lebensbildern‹ 68erschien, war Hans Max Freiherr von Aufseß ein bruchlos tadelloser Mann, der auf den Inseln sein Möglichstes tat, um die Einwohner vor den größten deutschen Repressalien zu schützen. Der Verfasser dieser Biographie folgt dabei dem von Aufseß selbst geschaffenen, von Casper, dem Hauptverantwortlichen für die Durchführung der von seinen Vorgesetzten in Paris angeordneten antijüdischen Maßnahmen auf den Inseln 69, und einigen englischen Autoren nach dem Krieg weiter tradierten Bild einer ›guten Okkupation‹ durch gebildete und distinguierte Besatzer von adeligem Geblüt. Casper verweist in seinem wenig glaubwürdigen Verteidigungsbüchlein auf englische Zeugen, die von Aufseß als tadellosen Besatzer schildern: »Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von deutscher Seite, soweit es die Zivilbevölkerung betraf, und eine der interessantesten (…).« 70Auch die 2014 publizierte Chronik der Familie von Aufseß unterlässt eine Einordnung in den historischen Kontext und erwähnt die Tätigkeit des Freiherrn auf den Kanalinseln nur in dürren Worten. 71Selbst im Jahr 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, sind noch die alten Mechanismen von Verdrängung und Verleugnung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirksam. Doch nur selten präsentiert sich die Vergangenheit, wenn man sie gründlich betrachtet, als eindimensionale Angelegenheit ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. So ist es auch bei Hans Max Freiherr von und zu Aufseß, der sich gern selbst mit ›HMA‹ abkürzte.
Die Quellenlage zur Biographie des Freiherrn von Aufseß ist gut, wurde bisher aber in Teilen übersehen oder ignoriert. Die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP im Bundesarchiv Berlin gibt Auskunft über eine Parteimitgliedschaft, die aussagekräftige Spruchkammerakte des Entnazifizierungsverfahrens befindet sich im Staatsarchiv Coburg. Unterlagen des Kriegsgefangenenlagers ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Informationen zu Hans Max von Aufseß’ Zeit als ›Prisoner of War‹ (›PoW‹) lagern im National Archive im Londoner Stadtteil Kew. Im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld befindet sich der Nachlass des Freiherrn mit Manuskripten, privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen. Schließlich sind auch die zahlreichen Publikationen, die Hans Max von Aufseß nach dem Krieg veröffentlicht hat, weitere Quellen zum Verständnis und zur Einordnung seiner Person. Viele im ›Jersey Archive‹ befindliche Unterlagen, die seine Tätigkeit auf den Inseln dokumentieren, wurden von britischen Autoren, vor allem von Paul Sanders, gehoben, akribisch gesichtet und in der schon erwähnten umfangreichen Literatur verarbeitet.
Hans Max Otto Hermann Karl Gustav Freiherr von und zu Aufseß wird am 4. August 1906 in Berchtesgaden geboren. Er ist Teil einer fränkischen Adelsfamilie, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Noch heute zeugen eine Burg, ein Schloss und ein Dorf in der Fränkischen Alb von der Geschichte der Familie von Aufseß. Seine Vorfahren waren Bischöfe, freie fränkische Ritter – Raub-, aber auch Ordensritter – Reichsfreiherren, Verwaltungsbeamte und Militärs. Zuletzt erlangte Markus von Aufseß, 1987 bis 1990 Fußballprofi beim Zweitligisten SpVgg Bayreuth, eine gewisse Bekanntheit. Das Haus Aufseß trennt sich im 18. Jahrhundert in die Linien ›Unteraufseß‹ und ›Oberaufseß‹. Hans Max Freiherr von Aufseß gehört zur Linie ›Oberaufseß‹. Sein bis heute bekanntester Vorfahr ist sein Großonkel Hans von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der Begründer des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Sein Vater Ernst Moritz Leopold, verheiratet mit Caroline Freiin von Hohenfels, ist zur Zeit der Geburt von Hans Max Leiter des Bezirksamts in Berchtesgaden. 72Bei seiner Geburt hat Hans Max bereits zwei Schwestern, Anna und Elisabeth, und 1925 folgt mit Bruder Albrecht noch ein ›Nachzügler‹. Der Freiherr wird in die festgefügte Provinzadelswelt des späten bayerischen König- und deutschen Kaiserreichs hineingeboren. In dieser Welt gibt es Privilegierte und Gesinde. Seine glückliche Kindheit auf Burg Aufseß schildert Hans Max 1930 als junger Mann in einem romantisch-naturbewegten Gedicht: »Der Hof lag groß und breit, leicht im Gefälle/Hinauf zum Schloß, hinunter in die Ställe/Lief ich wohl hundertmal in Knabenschnelle/Und als Jüngling wieder hundertmal. (…) Hell überflattert von den Wolkenfahnen:/Das Tal, der Wald und Flur und Burg der Ahnen./Ich war daheim, Du gütiges Geschick.« 73Schon in diesem Jugendwerk spiegeln sich eine schwärmerische Ader und eine virile Lebensbejahung, die auch im Tagebuch der Okkupationszeit immer wieder durchscheinen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und auch das Leben in der fränkischen Provinz berührt, ist Hans Max von Aufseß acht Jahre alt. Mit Rittmeister Otto-Walter von Aufseß, der im November 1914 fällt, und Major Siegfried von Aufseß, beide aus der Linie ›Unteraufseß‹, der 1917 an den Folgen einer Verwundung stirbt 74, verliert, wie viele andere auch, diese Familie im Krieg Menschenleben. Bei Beginn der ersten deutschen Republik, welche 1919 die Standesprivilegien des deutschen Adels abschafft und so die Lebensverhältnisse der ganzen Familie verändert, ist Hans Max zwölf Jahre alt. Er gehört damit zu jener sogenannten ›Kriegsjugendgeneration‹ 75der zwischen 1900 und 1912 Geborenen, die, zu jung für eine Bewährung im Fronteinsatz, das Ende von Kaiserreich und alter Ordnung sowie die schwierigen Anfangsjahre der deutschen Republik als Verlusterfahrung wahrnehmen, gegen die sie sich machtlos fühlen. Diese Generation radikalisiert sich und ihr entstammt ein Großteil der späteren nationalsozialistischen Funktionsträger, u. a. Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder der schon erwähnte Werner Best. Auch der fast gleichaltrige Hans Werner von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der wie Hans Max in München Jura studiert, gehört zur ›Kriegsjugendgeneration‹. Mitglied in der SS und der NSDAP macht er Karriere als persönlicher Referent des Reichslandwirtschaftsministers Walter Darré. Bei den ›Nürnberger Prozessen‹ nach 1945 sagt Hans Werner von Aufseß als Zeuge aus.
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