Enthält: Einträge vom 8. Oktober bis 31. Oktober 1943 und vom 5. Juni bis 1. September 1944. Lücke zwischen 1. November 1943 und 4. Juni 1944. Es geht dann mit einem Eintrag zum 11. August 1944 weiter, womit sich eine weitere Lücke vom 6. Juni bis zum 10. August 1944 ergibt. Die Versionen ›B‹ und ›C‹ beginnen am 30. Juli 1944. Tagebuch 1 ist somit in Teilen nicht veröffentlicht bzw. bewusst von Hans Max von Aufseß vor der Öffentlichkeit zurückgehalten worden.
Hans Max Frhr. v. u. z. Aufseß.
Aufsess Oberfranken
Schloß Oberaufseß
Tagebuch I
[1] Tagebuchnotizen.
08. 10. [19]43
Rückfahrt von Paris nach Granville. 1Ein leichter herbstlicher Schleier liegt über dem Land, durch den die Sonne ungewiss durchdringt. Das grüne Weideland zwischen den herbstlichen Baumumzäunungen gefällt mir innig. Ich stehe oft auf in meinem leeren Coupé, um noch direkter noch im stärkeren Gegenüber alles zu beschauen. Vom Schauen leicht ermüdet lese ich wieder und nicke ein wenig ein. Der Wechsel ist so erfrischend, daß ich mich tief ausgeruht und befriedigt fühle und zu klaren Rückblicken auf die Urlaubstage alles angeregt finde. Das fruchtbare landschaftlich schöne Frankreich gäbe überall ein tragbares Dasein. Ich schaue mir kleine Hütten an und beobachte einen alten Mann, der am Stock schwer durch den Obstgarten zum Hause zu hinkt, um einen Apfelkorb hineinzutragen. Es kommt mir über, daß der Mann wenig an den Krieg und alle Verheerungen denken wird. Gewiss ist er wunschlos u. glücklich. Eine Bauernhütte ist zu einem Viertel mit neuem Stroh überdeckt. Ich denke an die niedergebrannten Ruinen in Deutschland. Wäre es in meiner Heimat, so möchte ich auch unter einer Strohkate dort gern leben. Vielleicht führt der Krieg uns zum einfachen Leben zurück und ich sehe darin kein Unglück, soweit es das Landleben auf eigenem Boden ist. Die Natur müsste ein Mittel erfinden gegen die Unnatur der Großstädte. Die Technik, die sie [2] ermöglicht hat, zerstört sie folgerichtig nun wieder. 2
9. 10. [1943]
In Granville mit Schwester 3Irmgard große Tauschgeschäfte zugunsten der Lieben zu Hause abgeschlossen. (19 kg Butter, 10 kg Leberwurst). Es ist so nett mit ihr dieser Handel, denn im Grunde ist sie genau so uneigennützig wie ich selbst dabei. Wir führen uns als große Geschäftsleute auf und der Handel sind doch nur Liebesgaben.
Da kein Dampfer nach Jersey fährt, Autofahrt nach St. Malo. Wieder herrlicher duftiger Herbsttag. Nur Auto fährt zu schnell. Es gibt viel zu viel zu schauen. Es liegt zu viel Poesie ringsum bereit und die verträgt kein rasendes Fahren. An der Küste gegen Cancale 4entlang blüht der freie Meerboden rot, weit draußen stürmt das Meer an. Herrliche Farben. Das Auto rast. Wie möchte ich gern hier halten und die Farben näher betrachten. Vielleicht ist der Meerboden immer so rot. Es sind die Farben von Frankreich, blaues Meer, weiße Brandungswellen und roter Strand.
In Malo steigen ein paar hundert junge Rekruten auf das Schiff. Es ist ihre erste Fahrt. Ich denke daran, wie schwärmerisch u. begeistert ich [3] gewesen wäre und finde nur wenig in ihnen. Manche freilich saßen die ganze kühle Mondnacht auf der Aussichtsbank und sie mögen in ihrem jungen Herzen wohl manches Gefühlvolle zur Heimat zurückgeschickt haben. – Wir liegen bis zum Eintritt völliger Dunkelheit auf Reede mit dem herrlichen Anblick des Hafengolfs, der in seinem interessanten Aufbau, der befestigten alten Stadt in Insellage, der Hafen, der Flußmündung, der reich bebauten Villenufer und der vorgelagerten kleinen Felseninseln an die Reihe französischer Meister aus dem 18. Jahrhundert erinnert. 5Es müßten nur unsre grauen Dampfschiffe Segelschiffe sein. Die Überfahrt im Mondlicht ist wunderschön. Unser Schiff fuhr schnell (12 Seemeilen). Es treibt majestätisch durch das glitzernde ungewisse Mondlicht über dem Meer. Ein bescheidener General ohne jede Begleitung ist an Bord. Er hat den sympathischen Zug nach unbedingtem Alleinsein und hinkt mit seinem Holzbein einsam am Oberdeck hin u. her. Er hat sich jeden Empfang verboten. Ich erfahre, daß es niemand [4] weniger als unser kommandierender General Marx vom Korps 6ist. (Spätere Bem. 31. 8. Marx am Anfang der Invasion gefallen.)
Wache vor der Platzkommandantur
10. 10. [1943]
Empfang der Kameraden sehr herzlich. Welch friedlicher Ort hier. Alles geht seinen gemütlichen Lauf. Die Post aus aller Richtung der Heimat ist viel trüber. 7Zu Hause nicht hier ist Front. Ich sehe und beurteile manche Menschen wieder neu und plastischer. Welch junges Kind ist doch Schwester Marie 8. Zweifellos wechselt Reifsein oder es vollzieht sich schwingungsartig. Eine weite Reise bringt einen weiter, langes Bleiben dagegen an einem Ort bringt zurück.
Max Barthel 9schickt mir ein Buch von sich von erstaunlicher Kindlichkeit. Sein Erfolg liegt nur im einfachen Lied. Ein Liedersänger kann keine Novelle schreiben. Zur Novelle gehört eine anderer ich möchte fast sagen völlig [unleserlich] mondäner Mensch. Wie werde ich es ihm danken!
Nachmittags zum Tee bei Casper 10. Wir reden immer ein bisl zuviel gescheite Sachen über Bücher, Politik, dienstliche Dinge, die seelischen Spalten zwischen diesen gewaltigen Schichtungen bleiben zu sehr ver- [5] schlossen, nicht weil er sie nicht hätte, sondern weil er wohl ein zu norddeutscher Mensch ist, der sich und damit unwillkürlich auch andere zu viel verschließt u. verbietet, weil auch irgendwie die schöpferische treibende vulkanische Macht zu wenig stark ist, um das warme Innere dabei durchkommen zu lassen. Trotzdem alles nett und anregend war, gehe ich mit dem erleichterten Gefühl, etwas abgesessen zu haben.
11. 10. [1943]
Der Tag war grau in grau ohne Wind. Das Wetter überlegt sich, was es werden soll und vielleicht hat es noch schöne sonnige Nachherbsttage im grauen Sack.
Unser Hausgenosse Kriegsgerichtsrat v. [Treskow] ist ein geradezu hassender Pessimist. Alle Dinge wenden sich bei ihm zu einer verfolgerischen bösen Art. Sein türkensäbelkrummer scharfer Mund steht gefährlich unter den stechenden Augen, von denen das eine ein blindes Glasauge ist. Vielleicht kommt ihm die bittere Art, alles anzusehen, vom einen Auge. Mit zweien sieht man allemal mehr hinter die [6] Dinge. Ist es doch ein physiognomisches Gesetz 11, daß weitauseinanderstehende Augen Fantasie bedeuten. Pessimismus ist aber eine Art von Flachheit und zwar die Schlimmste. (»Und trank sich Hass aus einem Meer von Liebe.«)
Die hinter mir liegende Reise hat mir eine große Aufmunterung gebracht. Ich arbeite froher, zupackender und ich beteilige mich an allen Reden frischer. Auch die Sphäre der Gewohnheit liegt dünner um mich herum. Ich sehe die Zeit hier als eine gestreckte Frist, die es noch glücklich auszunützen gilt. Es folgen schwere Zeiten. Heute fühlte ich fast sinnlich ihr unheimliches Herannahen. Es kam nur die Nachricht durch, daß sämtliche Schwestern die Inseln verlassen müßten. Ist das der Vorakt einer Räumung? Wann naht unsre Zeit? Ein Ende wird hier ja alles nehmen. Wie viele sah ich schon scheiden. Das erst- [7] malige Dunkel in meinem Büro, in dem nur die Schreibtischfläche hell beleuchtet strahlt, war mir so ungewohnt und machte mich unruhig. 12Ich ging auf u. ab, packte zuletzt nichts mehr an. Der helle Schreibtisch im Dunkel rings war mir wie das bisschen erleuchtete Gegenwart im Dunkel der Zukunft ringsum. Ein französischer Sender brachte hübsche Chansons und ich war froh, ihnen lauschen zu können.
Beim Abendessen viel zu langes Sitzen und ein Ereifern über das Gespräch, ob wir die Engländer zu mild behandelten 13, wobei wir die Gegner, die ja alle nicht in unsere Reihen sitzen, leicht abfertigten.
Читать дальше