Dr. Peer Eifler sagte: „Da das ja mein Hauptmetier jetzt hier in Österreich ist, ich bin ja fast ausschließlich als ärztlicher Psychotherapeut tätig, d. h. ich habe ganz viele posttraumatische Störungen mit Menschen, die ganz viel Angst haben, mit Menschen, die Angst verdrängt haben, die ganz fürchterliche Dinge passiert haben, was manchmal Jahre, Jahrzehnte im tiefsten Inneren schlummert. Und dann kommt was und drückt sie über die Klippe und nimmt ihre letzten Chancen, damit irgendwie zu funktionieren. Genau das ist eigentlich passiert auf einer kollektiven Ebene.“29 Verfassungsrichterin Juli Zeh stellte ebenfalls fest, dass Corona „konkurrierende Fundamentalängste auslöst, die aufeinanderprallen“.30 Vor einem Virus, vor Existenzverlust, vor dem Regierungshandeln und mehr. „Hier wird eine Ur-Angst geweckt, die Ur-Angst vor Krankheit, Siechtum und Tod“, sagte Friedrich Pürner, Epidemiologe und Leiter des bayerischen Gesundheitsamtes.31 Der weitdenkende Hirnforscher Gerald Hüther sieht eine „zunehmende Verunsicherung“ in der Gesellschaft, in der die Menschen nach „Halt und Orientierung“ suchen. „Solche Phasen allgemeiner Verunsicherung sind Umbruchphasen einer Gesellschaft.“32 Wir sind ebenfalls der Überzeugung, dass wir es mit einer historisch bedeutsamen Umbruchphase des politischen, ökonomischen, finanzwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems auf unseren Planeten insgesamt zu tun haben; darauf werden wir in Kapitel 11 näher eingehen. Ebenso stimmen wir Hüther völlig zu, wenn er schreibt: „Erst wenn wir verstehen, weshalb und wovor Menschen Angst haben und was mit ihnen dann passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen.“
Im Folgenden werfen wir daher einen ersten Blick auf das Phänomen der Angst. Dabei gehen wir davon aus, dass die Angst nicht durch noch mehr Sicherungssysteme und Vorsorge überwunden werden kann, sondern nur durch das Verständnis, was unterbewusst in unseren Köpfen geschieht. Schauen wir nicht auf die angeblichen Gefahrenstellen, sondern auf unser Inneres, unsere persönlichen Schwächen und unsere inneren Stärken. Dieser Weg kann uns tatsächlich dazu führen, dass wir unsere Ängste schließlich abbauen und minimieren und vielleicht einmal ganz verlieren. Und dann haben wir nicht nur persönlich einen riesigen Wachstumsschub gemacht, dann verändern wir damit auch die Welt.
4BURCHARDT 2020.
5OLLES 2020a.
6WODARG 2020.
7OTTE 2020.
8SARRAZIN 2016: 16.
9A. A. 2020zl.
10KUBICKI 2020a.
11WESTDEUTSCHER RUNDFUNK 2020.
12KOCH 2013: 1. Zur German Angst siehe auch BODE 2016.
13Vgl. BENESCH 1994: 227.
14A. A. 2020zzzzd.
15A. A. 2020zzl.
16MIEGEL 2016.
17HAGEN 2020: 17–18.
18Deutsche Industrienorm.
19FUREDI 2002.
20SUNSTEIN 2007.
21HAWKINS 2013: 117.
22ALTHOFF 2020a.
23WOLF 2018: 7.
24GROMES 2020.
25STÄHELI 2013: 94.
26STRAUB 2020b.
27LANZ 2020.
28A. A. 2020zzzf.
29EIFLER 2020a.
30ZEH 2020.
31KATTENBECK 2020.
32HÜTHER 2019: 13.
2. Der Sinn der Angst und ihre drei Überlebensstrategien
„Der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz.“
Friedrich Nietzsche, Philosoph (1844–1900).33
„Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie
eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.
Dabei ist das Wichtigste, dass man den Mut hat, nein zu sagen.“
Erich Fromm, Psychoanalytiker (1900–1980).34
Angst ist eine der zentralen Emotionen des Menschen. Daher ist auch die Psychologische Wissenschaft schon seit früher Zeit bemüht, eine Definition und eine Erklärung für ihr Auftreten zu finden. Viele dieser Bemühungen schlugen jedoch fehl und führen nicht weiter, u. a. die Versuche einer Abgrenzung zwischen den Begriffen Furcht und Angst, die Frage, ob Angst eines Objektes bedürfe, dem gegenüber die Angst entstehe, die Ableitungen von Geburts- und Todesangst oder gar Sigmund Freuds Verbindung mit sexuellen Aspekten, wie seiner Theorie vom Ödipuskomplex.35 Die Psychotherapie hat sich lange auf die krankhaften Formen der Angst konzentriert, die „normale“ Angst hat auch sie vernachlässigt.36
Die Zahl der Dinge, Ereignisse und Gedanken, vor denen wir Angst haben können, ist nahezu endlos. Wir alle kennen die Angst vor dem Tode, vor Höhe, dem Alleinsein, vor Alter, Krankheiten, Geräuschen in der Nacht, Tunneln, Fahrstühlen, Dunkelheit, Spinnen, Mäusen, Hunden, großen Plätzen, Enge, dem Zahnarzt mit seinem Bohrer. Dazu kommt Angst vor Enttäuschung, Prüfungsangst, die Angst, missverstanden oder nicht geliebt zu werden, nicht anerkannt oder verlassen zu werden, die Angst vor Ablehnung, Autorität und Arbeitslosigkeit, die Angst vor Kritik, allgemeine Zukunftsangst, die Angst vor Entscheidungen, vor Veränderung, die Angst, nicht zu genügen, etwas zu verpassen, zu scheitern oder von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Skurril fanden wir es, als wir hörten, dass jemand Angst vor Müllcontainern hatte, aber das ist seit dem Frühjahr 2020 vorbei. Wir hätten uns schließlich auch nie vorstellen können, dass es eine Angst geben könnte, nicht genügend Toilettenpapier zu besitzen. Alles ist möglich.
Auch die körperlichen und emotionalen Reaktionen auf Angst sind vielfältig. Was geschieht nicht alles in uns, wenn wir Angst haben. Der Herzschlag wird schneller, der Blutdruck steigt, unsere Atmung verändert sich, die Muskeln verspannen sich, wir bekommen Mundtrockenheit oder Übelkeit mit Druck in der Magengegend bis hin zum Erbrechen, wir zittern, wir schwitzen und bekommen Schweißausbrüche, unsere Nerven kribbeln. Weiterhin verengen sich unsere Pupillen, unser Blick wird enger, die Stimme zittriger, wir weinen und müssen ständig zur Toilette bis hin zum quälenden Durchfall. Uns kann schwindelig und schwarz vor den Augen werden und manche fallen gar in Ohnmacht. Auch unser Denken ändert sich unter Angst und in unserem Kopf wird es völlig verrückt. Unsere Gedanken kreisen um das Problem, wiederholen es wieder und wieder, grübeln, unsere Kreativität und logisches Denken verschwinden, unser sexuelles Interesse erlahmt gedanklich und körperlich, ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Entsetzen macht sich breit, wir sind angespannt und reizbar. Auch hektische Betriebsamkeit und Ruhelosigkeit helfen uns nicht, und wenn dies alles zu lange anhält, können wir irgendwann nicht mehr. Es kommt zu Einschlaf- und Durchschlafstörungen, zu völliger Erschöpfung, wir ziehen uns aus der Umwelt zurück, ziehen die Bettdecke über den Kopf, essen zu viel oder zu wenig, trinken Alkohol oder greifen zu Psychopharmaka. Eventuell erfolgt eine Depression. Warum das nur alles? Das sind doch Reaktionen, die wir gar nicht wollen, die uns nicht guttun. Was soll das, warum reagieren wir so?
Da die Evolution selten auf Dauer Unsinniges bestehen lässt, muss diese Vielfalt an Reaktionen irgendeinen Sinn haben. Versuchen wir einmal, tiefer hinter das Geheimnis der Angst zu schauen.
Um die Vielfalt zu verstehen und den Sinn hinter all dem zu erkennen, müssen wir erst einmal klären, wie die Angst im Laufe der Evolution entstanden ist und wofür sie eigentlich da ist. Damit können wir dann im Umkehrschluss auch analysieren, wann Angst kein guter Ratgeber ist. Und all das führt uns dabei immer wieder zu den vielen Merkwürdigkeiten der Coronazeit. Dazu werden wir die Vielfalt der Angstformen und unsere Reaktionen zu einem kohärenten System zuordnen, das es uns ermöglichen kann, Ängste verstehen und überwinden zu lernen. Und so können wir schließlich die Coronazeit überstehen und Lösungen dafür finden, wie wir aus diesem ganzen Angstgeschehen herauskommen und es erreichen können, dass so etwas nie wieder geschehen kann.
Gehen wir einmal ganz weit zurück. Unsere Vorfahren lebten über Jahrmillionen in einer nicht ungefährlichen Umwelt. Mit einer Körpergröße von nur etwas über einem Meter waren unsere Ahnen in Afrika vor drei Millionen Jahren, wir nennen sie Australopithecus, eine beliebte Beute von Löwen, Leoparden und anderen Raubtieren. In der Psychologie wird oft das Beispiel des Säbelzahntigers bemüht, der war aber gar nicht so relevant und wurde wohl sogar vom Menschen später ausgerottet. Es gab viele andere Raubtiere, die dem Menschen gefährlicher waren. Selbst als Homo habilis und Homo erectus, unsere nachfolgenden Vorfahren, an Gehirn- und Körpergröße zunahmen und das Feuer zu beherrschen gelernt hatten, war das Leben risikohaft. Mit einfachen Lanzen auf Jagd zu gehen, konnte leicht eigene Verletzungen mit sich bringen. Noch im Mittelalter kamen viele Jäger zu Tode oder zu schweren Unfällen, die versuchten, mit einem Sauspieß ein Wildschwein zu erlegen. In südlicheren Ländern kamen Gefahren durch giftige Tiere hinzu, Skorpione, Spinnen und Schlagen etwa. Das Herunterfallen von einem Baum oder Felsen mit Knochenbrüchen konnte ebenfalls den Tod bedeuten. Da machte es in der langen Evolutionsgeschichte Sinn, eine angeborene Empfindung zu besitzen, die vor solchen Gefahren warnte. Die Angst.
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