„Sie werden nie zurückkehren!" Die Stimme schien vor Zorn zu stokken. „Sie haben einer elenden Eidechse geopfert, und Kebs Zorn hat sie vernichtet. Geht!"
Innerhalb einer Minute war der Platz leer.
Die Gestalt schien sich einen Augenblick umzusehen. Dann schritt sie weiter, mitten durch das Dorf und hinunter an den Strand. Keiner der Kariben hatte den Mut, ihr nachzuschauen.
Unmittelbar vor dem Dorf trat Adlerauge aus dem Busch und ging der Gestalt entgegen.
„Ist alles gut verlaufen?” fragte er.
„Ja, das ist es!" antwortete Haifischzahn aus dem Innern der Gestalt. „Aber nun hilf mir erst mal aus dem Zeug heraus, und dann schnell hinunter an die Kanus. Denn es kann ja sein, daß die Männer des Dorfes anderen Sinnes werden, wenn sie ein Weilchen nachgedacht haben."
Diesmal irrten sie sich jedoch. Keiner von den Kariben wagte sich heraus, bevor die Sonne — Kebs Schwager — in die Hütten schien. Da bemerkten sie, daß ihre Kanus verschwunden waren. An ihrer Stelle lag ein grinsender Krokodilschädel am Strand.
Erschauernd gingen sie in ihre Hütten zurück und packten die wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten.
Ungefähr zur selben Stunde lagen ihre drei Kanus vor der kleinen Insel in den Mangroven, hinter der flachen Landzunge.
Die Kanus waren mit Männern besetzt. Acht Männer waren zurückgegangen, um die Sumpfkanus in Otters Dorf zurückzupaddeln, die übrigen waren Adlerauge und seinen Gefährten an diesen Ort gefolgt.
Der junge Häuptling saß am Heck des größten Kanus und hielt einen Jaguarschädel in den Händen. Der Schädel war voller kleiner Löcher, und die untere Öffnung war mit einem Pfropfen von Balsaholz verstopft.
Vorsichtig zog Adlerauge den Pfropfen heraus, hielt die Hand unter das Loch und schüttelte den Schädel. Ein ganzer Haufen durcheinanderkribbelnder großer Leuchtkäfer fiel in seine Hand.
„Ich danke euch für eure Hilfe, kleine Brüder!" sagte der Häuptling. Dann öffnete er die Hand und ließ die Käfer fliegen.
In dem Augenblick ertönte ein lauter Ruf: „Drei Kanus auf dem Wege zu uns I Sägefisch kommt mit seinen Kriegern !"
Kurz darauf begrüßten sich die beiden Häuptlinge. Nach einer kurzen Ruhepause fuhren die sechs Kriegskanus aus den Mangroven hinaus auf die See in Richtung Ceysén.
Die Leute auf der kleinen Insel hatten Sägefisch und seine Kameraden schon vor mehreren Tagen zurückerwartet. Als sie nun sechs lange Kriegskanus direkt auf ihre Insel zusteuern sahen, wurden sie ziemlich unruhig.
Alle Männer und Jungen holten eilends ihre Waffen und stellten sich hinter den Korallenklippen auf, so daß sie Pfeile abschießen und Speere werfen konnten, ohne den Waffen des Feindes Ziele zu bieten. Die Frauen und sogar die Mädchen ergriffen die Fischspeere und Harpunen der Männer und legten ganze Haufen von Kochsteinen und Korallenstücken zum Werfen bereit.
Wenn die Kariben kamen, wollten alle mithelfen, sie abzuschlagen. Sie waren gerade bei den letzten Vorbereitungen für die Abwehr, als von dem ersten Kanu ein weithallender Ruf ertönte. Da saß ja Sägefisch, ihr Häuptling, und winkte mit dem Bogen!
Alle Daheimgebliebenen legten ihre Waffen und Geräte beiseite und begrüßten die Krieger mit fröhlichen Willkommensrufen.
Da hub nun ein Fragen und Erzählen an, als die Männer an Land gestiegen waren. Sie mußten alle ihre Abenteuer berichten, und die kleinen Jungen lachten und schrien vor Begeisterung, als das Fell des Jaguars an den Strand gebracht wurde.
Nur der alte Medizinmann machte ein ernstes Gesicht.
„Du hast dich gut geschlagen!” sagte er zu Sägefisch. „Es ist traurig, daß wir Krieg führen müssen, aber ich sehe ja, daß es sich nicht vermeiden läßt. Und deine neuen Bundesgenossen scheinen gute Leute zu sein. Otters Großvater habe ich noch gekannt, als ich jung war, aber ich wußte nicht, daß ihr Stamm so groß geworden ist. Bedenke aber nun eins, mein Sohn : Töte nicht ohne Notwendigkeit, nicht einmal einen Kariben! Denn wenn du es tust, wird es sicher sehr lange währen, bis Taj zurückkehrt. Und nimm es nach jedem Kampf sehr genau mit der Reinigung. Es ist nicht gut, die unversöhnten Geister seiner Feinde um sich zu haben, wenn man neuen Gefahren entgegengeht."
„Ich werde mein Bestes tun, Großvater", erwiderte der Häuptling demütig. „Auch ich möchte möglichst keine Menschen töten, und darum habe ich mir einen Plan ausgedacht. Wenn Großvater ihn hören will, dann ist es das beste, wenn wir für ein Weilchen beiseite gehen." Der alte Medizinmann hob beschwichtigend die Hand.
„Nicht jetzt!" sagte er. „Erst mußt du, gemeinsam mit den anderen, alle Schuld abwaschen. Ihr habt Kariben getötet und müßt nun sehen, daß die Geister der Toten Frieden finden. Sonst kann uns nichts gelingen."
Der Häuptling nickte. Alle „schuldigen" Waffen wurden Mummel übergeben, und dann fuhren Sägefisch, seine fünf Kameraden und all die Eisvogelmänner, die an dem Kampf in den Mangroven teilgenommen hatten, nach Ceysén hinüber. Es war ihr Glück, daß sie etwas Pflanzenkost aus Otters Lager mitgebracht hatten. Diese wurde nun völlig aufgebraucht, und auf Befehl des Medizinmannes rösteten die Frauen sogar einen Teil des Maises, den die Männer zur Aussaat mitgebracht hatten.
„Mais, der in blutige Hände kommt, bringt kein Glück", sagte der Medizinmann.
Es dauerte bis zum Mondwechsel, ehe alle Reinigungszeremonien beendet waren und die Krieger auf die kleine Insel zurückkehren konnten.
Die meisten von ihnen waren unterernährt und dachten nur noch an Schneckensuppe und gebratene Fische, aber Sägefisch, Adlerauge und Grauer Reiher hielten sich abseits von ihnen.
Als sie gegessen und sich ein Weilchen ausgeruht hatten, trat Mummel zu ihnen.
„Jetzt will ich deinen Plan hören", sagte er zum Häuptling. „Sind die zwei jungen Burschen auch eingeweiht?"
„Ja, das sind sie", antwortete Sägefisch. „Ohne die beiden wird der Plan kaum gelingen."
„Dann ist es am besten, wenn sie mitkommen", sagte der Alte. Alle vier begaben sich hinaus an die Korallenklippen, die ganz vorn an der schmalen Landzunge lagen, wo kein Mensch sie hören konnte. Dort setzten sie sich. Auf ein Zeichen des Medizinmannes begann Sägefisch mit seiner Erklärung, und die brauchte ihre Zeit. Aber als er endlich fertig war, nickte der Alte zustimmend.
„Es kann schon sein, daß es glückt", sagte er. „Wir werden jedenfalls nichts verlieren, wenn wir es versuchen, denk ich."
Noch am selben Abend riefen Häuptling und Medizinmann den ganzen Stamm zusammen.
Als sich alle im Halbkreis um sie in den Sand gesetzt hatten, begann Großvater Mummel zu reden: „Meine Kinder, morgen in der Nacht werden wir diese Insel verlassen. Sobald der Mond untergegangen ist, fahren wir los, so daß wir die flache Landzunge vielleicht in zwei Nächten erreichen. Dort verbergen wir uns in einem Meeresarm in den Mangroven, ehe es zu tagen beginnt. Die Nacht darauf rudern wir über die Bucht nach dem Ausfluß des großen Sees.
Nehmt alle eure Waffen und Fischgeräte mit, auch volle Wasserkrüge und Wegzehrung für die Reise, aber laßt alles Unnötige hier. Glückt unsere Fahrt, dann können einige von uns später zurückfahren und das Zurückgelassene holen. Mißlingt sie, dann werden wir unsere Maniokreiben und unsere Weberbäume nicht mehr brauchen."
Der alte Medizinmann seufzte tief, als habe er einen schweren Ent schluß gefaßt, aber der Häuptling und die jungen Krieger sahen froh und siegesbewußt aus.
So verließen die Bocaná-Arowaken ihre Wohnstätte auf der Insel im Korallenmeer.
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