«Jawoll, Sir!«Der Knabe zuckte aufgeregt mit den Wimpern und zog die Pfeife aus seiner Bandeliere.
In diesem Augenblick, als Bolitho versuchte, sich eine Melodie oder einen Shanty einfallen zu lassen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Männer vom Feind ablenken konnte, ertönte aus dem Achterschiff ein schrecklicher Schrei. Er hielt auf gleicher Tonhöhe immer noch an, als die Männer an den Kanonen auf den dunklen Gang hinter dem Steuerrad starrten, der zur Kajüte führte. Ein Rudergänger löste sogar den Griff um die Radspeichen und sah sich entsetzt um.
Der schreckliche Schrei brach ab, sein Echo schien aber noch lange in der Luft zu hängen. Bolitho biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht an den fetten, nackten, auf dem Tisch festgehaltenen Leib zu denken, in den das Messer des Schiffsarztes den ersten tiefen Einschnitt getan hatte.
Er fragte scharf:»Also?»
Der Trommelbube hob die Pfeife, aber seine kleinen rauhen Hände zitterten, als er sie an die Lippen führte.
Gossett sagte barsch:»Wie wär's mit dem Mädel aus Ports-mouth«. Er warf den Kanonieren und den reglos dastehenden Seesoldaten einen drohenden Blick zu.»Los, singt, ihr Waschlappen, oder ich fahre gleich zwischen euch!»
Als ein neuer schrecklicher Schrei die Luft zerriß, wurden die schwachen Pfeifentöne von den Matrosen auf dem Achterdeck aufgenommen, dann — zunächst langsam — von den Bedienungen der Zwölfpfünder und sogar von einigen Leuten oben auf den Gefechtsständen der Masten.
Bolitho ging auf die Luvseite und hielt das Gesicht in den Wind. Die Stimmen der Männer, die lauter wurden und sich über den Wind erhoben, das geistige Bild von Pelham-Martins Qualen, alles war Teil der Unwirklichkeit um ihn herum. Aber fast am schlimmsten waren die Worte des Liedes, das Gossett so eilig vorgeschlagen hatte, um die Schreie aus der Kajüte zu übertönen.
«Ich kannte ein Mädel in Portsmouth Town.»
Es war der gleiche Shanty, den sie gesungen hatten, als die Hyperion sich an jenem bitterkalten Wintermorgen aus dem Plymouth-Sund freigearbeitet hatte.
Er wandte den Kopf, als einer von Trudgeons Gehilfen mit einem Leinenbündel aus der Hütte trat. Der Mann hielt einen Augenblick inne und lauscht dem Gesang, bevor er das blutbefleckte Bündel über die Leereling warf.
Bolitho fragte:»Wie ging es?»
Der Sanitätsmaat zog eine Grimasse.»Ein kleiner Splitter, Sir, nicht größer als meine Fingerspitze. «Zornig zuckte er die Achseln.»Aber Eiter und Dreck für zehn Männer!»
«Verstehe. «Es war sinnlos, weitere Fragen zu stellen. Der Maat war nur eine Verlängerung von Trudgeons Armen, mit denen ein Opfer festgehalten wurde; die Schrecken seines Berufs hatten ihn so abgehärtet, daß er für Gefühle kein Organ mehr besaß.
Bolitho ließ ihn stehen und hob wieder das Teleskop. Wie schnell die französischen Schiffe eine Kiellinie gebildet hatten und wie unzerstörbar sie aussahen! Unter gerefften Segeln, die Rümpfe in dem eigenartigen Licht matt glänzend, schienen sie sich wie an einer unsichtbaren Schnur zu bewegen, und zwar auf einem Kurs, der mit dem der drei englischen Schiffe zusammenlief. In weiter Ferne, und durch ihr hohes Achterschiff gerade noch hinter der dräuenden Schlachtlinie erkennbar, sah er die San Leandro, auf der Perez und seine Ratgeber zweifellos warteten, daß ihm der Weg für seine Heimkehr zu Macht und Reichtum geöffnet wurde.
De Block hatte erzählt, daß der Gouverneur von Las Mercedes schon über siebzig Jahre alt sei. Es war unwahrscheinlich, daß er lange genug lebte, um sich seiner Heimat längere Zeit zu erfreuen, selbst wenn die Franzosen es ihm erlaubten.
Er warf das Teleskop in seine Halterung. Nun war er schon so weit, daß er ihre Niederlage in seine Gedankenkette einbaute. Nein, Lequiller würde nicht siegen, und Perez würde die Vernichtung seiner Verbündeten noch erleben.
Knapp drei Meilen trennten die beiden Geschwader, aber immer noch ließ sich nicht sagen, welche Schiffe die Luvposition einnehmen würden. Es war besser, den augenblicklichen vorsichtigen Annäherungskurs beizubehalten, als die Schlachtordnung durch ein Manöver in letzter Minute zu gefährden.
Das Singen hatte aufgehört, und als Bolitho das Schiff entlang blickte, sah er, daß die Männer an ihren Kanonen standen und nach achtern, auf ihn, schauten.
Er nickte.»Sie können jetzt laden und ausrennen lassen, Mr. Inch. Es wird Zeit, daß wir ihnen die Zähne zeigen.»
Inch grinste und eilte davon. Minuten später klappten die Deckel der Stückpforten hoch und rumpelten die Kanonen auf quietschenden Rollwagenlafetten an die Verschanzung. Die Geschützführer griffen nach den Abzugsleinen und gaben leise letzte Anweisungen.
Midshipman Pascoe kam aus dem Hauptluk gerannt und meldete vom Fuß der Leiter zum Achterdeck:»Untere Batterie geladen und fertig, Sir!«Er drehte sich um und wollte zurückrennen, als Bolitho ihn anhielt.»Kommen Sie her, Mr. Pascoe!»
Der Junge stieg aufs Achterdeck und legte die Hand an den Hut. Seine Augen strahlten, und seine sonst bleichen Wangen hatten vor Eifer Farbe bekommen.
Bolitho sagte ruhig:»Schauen Sie mal da hinüber!«Er wartete, bis der Junge auf einen Poller geklettert war, um über die Hängemattsnetze hinwegsehen zu können.
Pascoe starrte eine volle Minute auf die große Ansammlung von Segeln, die sich von Steuerbord voraus bedrohlich auf sie zu bewegte. Dann sprang er wieder herunter und sagte:»Das sind 'ne ganze Menge, Sir. «Er hob das Kinn, und als er ihn ansah, meinte Bolitho, daß dieses Gesicht gut in die Ahnengalerie des nun leerstehenden Hauses in Falmouth passen würde. Impulsiv streckte er die Hand aus und faßte Pascoe am Arm.»Passen Sie auf sich auf, Mr. Pascoe. Keine Tollheiten heute, ja?«Er griff in seine Tasche und zog das kleine geschnitzte Schiff heraus, das de Block ihm geschenkt hatte.»Hier, nehmen Sie das als Erinnerung an Ihre erste Fahrt.»
Der Junge drehte es in den Händen und sagte:»Es ist wunderschön. «Dann steckte er es in seine Jacke und machte wieder die Handbewegung zum Hut. Bolitho sah ihm nach, und das Herz wurde ihm plötzlich schwer.
«Er ist da unten sicher, Käpt'n.»
Allday stand hinter ihm, das Säbelgehänge und seinen besten Uniformrock über dem Arm.
Verschiedene Leute sahen zu, als Bolitho aus seinem abgetragenen Alltagsrock schlüpfte und die Arme in jenen mit den weißen Aufschlägen und Goldstickereien steckte: in den Rock, den Cheney so bewundert hatte.
Allday zog den Gurt über dem Bauch zurecht und trat dann zu einem kritischen Blick zurück. Gelassen sagte er:»Es wird harte Arbeit geben, bevor wir heute Schlafengehen, Käpt'n. Und viele Leute werden nach achtern schauen, wenn die Dinge schlecht stehen. «Er nickte zufrieden.»Die wollen Sie dann sehen, um zu wi s-sen, daß Sie bei ihnen sind.»
Bolitho zog den Säbel ein Stück aus der Scheide und berührte die Schneide mit einem Finger. Er war schon alt, aber der Mann, der ihn geschmiedet hatte, hatte etwas von seinem Handwerk verstanden. Er war leichter als die meisten neueren Waffen, aber scharf wie ein Rasiermesser. Er schob ihn in die Scheide zurück und verschränkte die Hände auf dem Rücken.»Wenn ich heute falle, sorgen Sie dafür, daß der Junge gerettet wird«, sagte er.
Allday stand hinter ihm, ein schweres Entermesser ohne Hülle im Gürtel. >Wenn du fällst, dann nur, weil ich vorher zu Brei verwandelt worden bin<, dachte er. Laut erwiderte er:»Keine Sorge, Käpt'n. «Er zeigte lachend die Zähne.»Ich will ja noch Bootssteu-rer eines Admirals werden!»
Man hörte einen dumpfen Knall, und Sekunden später stieg eine dünne Wassersäule an Backbord vor ihrem Bug hoch. Bolitho sah, daß brauner Qualm vom Vorschiff des Dreideckers wehte.
Er stellte sich vor, daß Lequiller und sein Flaggkapitän jetzt ihre langsame Annäherung beobachteten, und fühlte, wie sein Atem ruhiger und er geradezu gelassen wurde. Die letzte Ruhe, bevor der Wahnsinn begann. Der Augenblick, in dem kein Platz mehr war für Mutmaßungen oder Reue.
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