Alexander Kent
Admiral Bolithos Erbe
Ein Handstreich in der Biskaya
Der Sommer 1801 war selbst für das milde West-England außergewöhnlich freundlich und warm; er brachte tagelang blauen, wolkenlosen Himmel und reichlich Sonnenschein. Plymouth lag an diesem geschäftigen Julivormittag unter einem so gleißenden Licht, daß die Schiffe, die von der Reede bis zum Sund dicht an dicht ankerten, im Glast zu wabern und zu tanzen schienen, als wollten sie vergessen machen, wie grimmig ihre Batteriedecks drohten und wie tief die Narben aus der Schlacht waren, die manche von ihnen davongetragen hatten.
Eine schnittige Gig glitt zielstrebig unter dem Heck eines hohen Dreideckers durch und wich dabei geschickt einem schwerfälligen Leichter aus, der bis übers Dollbord mit großen Wasserfässern und Tonnen beladen war. Die hellen Riemen der Gig hoben und senkten sich im Gleichtakt, und auch die sauberen karierten Hemden und frisch geteerten Hüte der Crew machten ihrem Mutterschiff und dessen Bootsmann alle Ehre. Letzterer beobachtete zwar aufmerksam den Bootsverkehr im Hafen, beschäftigte sich aber im Geiste vor allem mit seinem Passagier: Kapitän Thomas Herrick, den er mit der Gig gerade von der Pier abgeholt hatte.
Herrick war sich der Geistesabwesenheit seines Bootsmanns sehr wohl bewußt; er spürte auch die Spannung der Bootsgasten, die seinem Blick auswichen, als sie jetzt ihre Riemenblätter horizontal drehten und die Gig wie einen riesigen Käfer über das helle Wasser gleiten ließen.
Herrick hatte eine lange, ermüdende Reise aus seiner Heimat Kent hinter sich, und je näher er Plymouth gekommen war, um so besorgter hatten sich seine Gedanken mit dem beschäftigt, was ihn erwarten würde.
Sein Schiff, die mit 74 Kanonen bestückte Benbow, war erst vor knapp einem Monat in Plymouth eingelaufen. Kaum zu glauben, daß jenes blutige Inferno, das man inzwischen die» Schlacht von Kopenhagen« [1] am 1. April 1801
nannte, erst drei Monate zurücklag. Das kleine Küstengeschwader, dessen Flaggschiff die Benbow gewesen war, hatte sich im Kampf besonders hervorgetan. Alle waren dieser Ansicht, und die Gazette hatte sogar angedeutet, daß ohne ihren Einsatz die» Dinge «vielleicht ganz anders ausgegangen wären.
Herrick runzelte die Stirn und rutschte unbehaglich auf seiner Ducht herum. Er merkte nicht, daß der Schlagmann unter seinem starren Blick zusammenfuhr, ja er war sich des Mannes nicht einmal bewußt. Herrick zählte jetzt 44 Jahre und hatte seinen hart erkämpften augenblicklichen Rang weder guten Beziehungen noch einem einflußreichen Gönner zu verdanken. Und das Gerede an Land kannte er bis zum Überdruß, er verachtete gründlich jene Neunmalklugen, die von einem Seegefecht so faselten, als sei es lediglich ein sportliches, von einem Schiedsrichter zu bewertendes Kräftemessen.
Solche Leute bekamen nie das Blut zu sehen, das Gemetzel, die zerfetzten Körper und zerrütteten Gemüter, die der Zoll jeder Schlacht waren. Oder das Verhau aus gebrochenen Stagen und gesplitterten Spieren, das ohne Federlesen gekappt werden mußte, damit der Schaden sich in Grenzen hielt und das Wrack sich wieder in ein Kriegsschiff verwandelte.
Herrick ließ den Blick über die stark befahrene Reede wandern. Überall wurden Schiffe ausgerüstet oder verproviantiert. Eine schlanke Fregatte erregte seine Aufmerksamkeit, die ohne Rigg und mit hohem Freibord über ihrem eigenen schmucken Spiegelbild ritt; noch unbelastet von schweren Geschützen oder voller Mannschaft, schwang sie vor der Helling an ihren Trossen: soeben von Stapel gelaufen. Herrick sah winkende Arme und geschwenkte Hüte, bunte Flaggen über noch leeren Stückpforten, und fühlte förmlich die wachsende Selbstsicherheit der neuen Fregatte. Ein Schiff wie ein frisch geworfenes Fohlen, dachte er.
Doch so leicht ließen sich seine Sorgen nicht zerstreuen. Acht Jahre Krieg mit Frankreich und seinen Verbündeten, und England hatte immer noch viel zu wenig Fregatten. Wohin würde wohl dieser Neubau beordert werden? Wer würde ihn befehligen und an Bord Ruhm oder Schande ernten?
Das erinnerte Herrick an den jungen Leutnant, der ihn mit der Gig abgeholt hatte. Er mußte an Bord gekommen sein, während er selbst seine sieben kostbaren Tage in Kent verbrachte. So blaß und jung sah er aus, so unsicher, daß Herrick ihn eher für einen neu angemusterten Midshipman [2] Offiziersanwärter: Seekadett bzw. Fähnrich zur See
gehalten hätte als für einen Leutnant. Aber der Krieg hatte so viele Leben gekostet, daß die ganze Flotte nur noch aus Knaben oder alten Männern zu bestehen schien.
Sinnlos, diesen Jungen danach zu fragen; der fürchtete sich ja vor seinem eigenen Schatten.
Herrick blickte zu seinem breitschultrigen Bootsmann auf, der die Gig gerade unter einem weiteren hochragenden Bugspriet hindurchsteuerte, beobachtet von den glühenden Augen der Galionsfi-gur.
Doch dieser bibbernde Junge in Leutnantsuniform hatte ihn an der Pier erwartet, hatte ehrerbietig seinen Hut gezogen und atemlos in einem einzigen Satz hervorgesprudelt:»Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und der Admiral ist an Bord.»
Zum Glück stand also wenigstens der Erste Offizier zu seinem Empfang bereit, dachte Herrick grimmig. Aber weshalb war Konteradmiral Richard Bolitho, ein Marineoffizier, unter dem er in allen Winkeln der Welt gekämpft hatte, den er verehrte wie keinen zweiten, wieso war Bolitho ausgerechnet jetzt auf der Benbow?
Immer noch standen die letzten schrecklichen Augenblick bei Kopenhagen vor Herricks Augen: Bolitho mitten im rauchdurchzogenen Schlachtgetöse, unter fallenden Spieren und ohrenzerreißendem Geschützfeuer. Wild trieb er seine Leute an, führte sie mit der rücksichtslosen Entschlossenheit, wie nur er sie über sich brachte. Allein Herrick, sein engster Freund, wußte, was diese Entschlossenheit Bolitho kostete. Erkannte die Zweifel und Ängste, die Erregung über eine Herausforderung, die Verzweiflung über unnütz vergeudete Menschenleben.
Gerade für Bolitho hätte der Landurlaub ganz anders aussehen sollen. Diesmal erwartete ihn eine Frau, eine schöne junge Frau, die ihn entschädigen konnte für den tragischen Verlust, den er vor nicht sehr langer Zeit erlitten hatte. Bolitho war kurz nach London zur Admiralität gereist und hatte dann wieder nach Cornwall zurückkehren wollen, in das große alte Haus in Falmouth.
Die Gig näherte sich ihrem Ziel, dem Linienschiff Benbow, dessen Anblick Herrick immer noch den Atem verschlug. Mit ihrer schwarzen, hellbraun abgesetzten Bordwand, die im Sonnenlicht glänzte, schien sie ihn ganz persönlich willkommen zu heißen. Nur ein Berufsseemann, und ganz besonders natürlich ihr Kommandant, konnte erkennen, worüber neue Farbe und Pech, frisch geteertes Rigg und sauber aufgetuchte Segel die anderen hinwegtäuschten. Jetzt drängten sich Leichter und Flöße rund um den fülligen Rumpf der Benbow, die Luft vibrierte vom Lärm der Hämmer und Sägen, und noch während Herrick hinsah, wurde wieder ein großes Bündel mit neuen Leinen zur Besanmaststenge hochgehievt; die alte Stenge war ihnen im Gefecht weggeschossen worden. Aber die Benbow war ein relativ neues Schiff und so stark wie zwei ältere Schiffe ihrer Klasse. Zwar hatte sie schwer gelitten, aber nun war sie ja aus dem Dock heraus und würde binnen weniger Monate wieder mit dem Geschwader in See stechen können. Seine gewohnte Vorsicht vergessend, spürte Herrick Stolz und Genugtuung über das, was sie geleistet hatten. Typischerweise machte er sich nicht klar, daß der Erfolg zum größten Teil ihm selbst zu verdanken war, seiner ansteckenden Begeisterung und seinem unermüdlichen Streben, die Benbow wieder seeklar zu machen.
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