Beim Anblick der Szenerie packte Caius das Grausen. Wie sollte es weitergehen? Es war abzusehen, dass diese humpelnde Marschkolonne im Lauf des Tages in kleine Teile zerhackt und aufgerieben werden würde, wenn die Germanen ihre Angriffe fortsetzten. Was würde aus ihm und Fastrada werden? Wäre es nicht besser, sich gleich abzusetzen, ohne weiter machtlos zusehen zu müssen, wie die ganze Armee unterging? Erschrocken stellte er fest, dass auch er nur noch an sich dachte. Aber war das verwerflich? Im Kampf war er ohnehin keine große Hilfe. Während er nachdenklich auf eine Kette von ruckend anfahrenden Wagen blickte, fiel ihm wieder ein, wie alles angefangen hatte.
Lucius und er auf der Raststation in den Bergen mit dem Brief des Statthalters. Lucius und er auf dem Gerüst des Stabsgebäudes von Oppidum Ubiorum. Lucius und er bei Varus, der von dem Mitbringsel der parthischen Gesandten berichtete. Lucius und er. Ihr gemeinsames Abenteuer. Sie waren dem Geheimnis so nahe gewesen, und jetzt schien alles in diesem schrecklichen Wald zu enden.
Der Himmel fand langsam zu einem zarten Blau. Über den Wipfeln der Bäume am Horizont ging die Sonne auf und riss lange Schatten aus dem sich mühsam ordnenden Chaos. Eine merkwürdige Stimmung herrschte im Lager. Es war, als würde das Land ein letztes Mal Luft holen, um dann den Atem anzuhalten.
Hinter Caius erschien Fastrada im Zelteingang, ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Ihm fiel auf, dass er sie bisher nur einmal bei Tageslicht gesehen hatte, in Castra Lupiana. Und obwohl sie übernächtigt und erschöpft wirkte, kam sie ihm vor wie eine Göttin.
Kurz darauf trat Silanus ins Freie, der von einem Sklaven in aller Eile angekleidet worden war; er trug schon wieder seine Rüstung. »Ein schöner Tag«, sagte er. »Ich bin mal gespannt, ob wir das heute Abend auch noch sagen werden.«
Ein weiterer Sklave erschien mit ihren Pferden. Sie saßen auf und schlossen zum Stab auf, der gerade das Lager verließ.
Kaum hatten sie die Ebene hinter sich gelassen und waren in den Wald eingetaucht, wurde wieder Kampflärm laut. Er schien unaufhaltsam näher zu rücken. Von irgendwo wurden Befehle gebrüllt. Melder kamen und gingen. Schreie und das Klirren und Dröhnen von Waffen hallten durch den Wald. Immer öfter mussten sie Toten ausweichen, die schrecklich zugerichtet mitten auf dem Weg lagen. Hier und da stöhnte zwischen den Leichen ein Verwundeter auf. Die Soldaten zogen vorüber und taten, als hörten sie es nicht. Lethargie und Trotz waren in den Gesichtern zu lesen. Während sich die einen abgestumpft und gleichgültig voranschleppten, waren die anderen entschlossen, ihr Leben möglichst teuer zu verkaufen. Caius ritt dicht neben Fastrada. Sie sprachen nicht viel, aber ab und zu lächelte sie ihm aufmunternd zu.
Plötzlich pflanzte sich ein Aufschrei durch die Kolonne, der sie von einem Moment zum anderen aus ihrer Trägheit riss. Unzählige germanische Krieger waren rechts und links des Weges aufgetaucht. Sie hatten sich in geschlossenen Reihen zu zwei scheinbar endlosen Ketten aufgestellt. Die Römer konnten nur durch Hornsignale und heiser gebrüllte Befehle dazu gebracht werden, sich ihrerseits zu formieren. Prätorianer und Legionäre bildeten an den Flanken des Zuges eine Mauer, stellten ihre Schilde auf den Boden und gingen in Deckung. Von hinten schlossen mehrere Centurien im Laufschritt auf. Bald waren Caius und Fastrada von allen Seiten von Soldaten umgeben. Reiter sprangen von den Pferden. Auch die beiden ließen sich zu Boden gleiten und suchten Schutz neben einem Wagen.
Eine gespenstische Stille hatte sich mit einem Mal über den Wald gelegt. Caius schlang die Arme um Fastrada, die zitternd auf dem Boden hockte. Aus seiner Position konnte er nur die breiten Rücken der Legionäre sehen, die eng zusammengerückt waren. Sein Herz pochte wie wild, sie haben uns, dachte er noch, bevor in der Ferne ein Kommando erschallte, das von einem tausendstimmigen Chor beantwortet wurde, einem rhythmischen, heiseren Grölen, begleitet vom Klang der auf die Schildränder schlagenden Waffen. Der Lärm hielt eine Weile an, brauste auf wie ein Orkan. Dann gesellte sich zu den Stimmen das Trampeln von Tausenden von Füßen, die Erde schien zu beben, ein Hornsignal raste heran. Die Legionäre sprangen hoch, holten aus, schleuderten ihre Speere in Richtung der Angreifer, gefolgt vom wütenden Zischen der blankgezogenen Schwerter. Wurfspeere rauschten heran, schlugen knatternd in die Schilde, und kurz darauf trafen die Schlachtreihen aufeinander; die Legionäre wurden von der Wucht des Aufpralls zurückgeworfen, fingen sich aber sofort wieder und drängten die Germanen zurück. Überall knallte, knirschte, dröhnte und schepperte es.
Caius fühlte, wie Fastrada ihre Fingernägel in seine Schulter krallte, sein Blick hastete hin und her. Die Legionäre rückten weiter vor, Schritt für Schritt. Caius gefror das Blut in den Adern. Reiter stürzten sich ins Getümmel, eine silberne Gesichtsmaske blitzte auf und verschwand sofort wieder. Dann ließ der Lärm allmählich nach. Die Germanen zogen sich, von wilden Flüchen begleitet, zurück. Einige Legionäre schienen sofort die Verfolgung aufnehmen zu wollen, doch scharfe Befehle sorgten dafür, dass die Linie geschlossen blieb.
Während Verwundete nach hinten durchgereicht wurden, kam ein berittener Soldat angaloppiert, brachte sein Pferd neben Caius zum Stehen und ließ sich aus dem Sattel gleiten.
Es war Silanus. »Wir sind völlig eingekeilt!«, schrie er keuchend. »Vor uns ist alles voll von diesen Wilden, sie haben da einen mächtigen Erdwall aufgeschüttet. Als die Vorhut gerade vorbei war, sind sie dahinter vorgestürmt und haben die ersten beiden Kohorten vollständig niedergemacht.«
»Einen Erdwall mitten im Wald?«, fragte Caius.
»Ja«, sagte Silanus, dessen Atem sich langsam beruhigte. »Hübsch mit Palisade, Wassergraben und ein paar Tordurchlässen. So, wie sie es von uns gelernt haben. Ziemlich gute Arbeit. Wir sitzen in der Falle. Es werden immer mehr.«
»Dann gehen wir alle unter«, sagte Caius tonlos.
Silanus ging nicht darauf ein. »Varus will dich sprechen«, sagte er unvermittelt.
»Der Statthalter?«
»Der Statthalter«, wiederholte Silanus. »Wenn wir ihn noch so nennen wollen, nachdem seine Provinz in den letzten Tagen etwas geschrumpft ist.« Er blickte sich um und begann auf einmal zu lachen. »Dramatisch geschrumpft. Ich würde sagen, so breit wie dieser Waldweg und vielleicht noch vier Meilen lang. Der Rest ist wieder, was er immer gewesen ist: Barbarenland.«
»Was will Varus von mir?«
»Ich glaube, er möchte deine guten Beziehungen zu unseren Gegnern nutzen«, sagte Silanus und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Obwohl es Caius dämmerte, worum es ging, stellte er sich ahnungslos. »Will er mit Arminius verhandeln?«
»Was hätte denn der Knochen mit dem Hund zu verhandeln?«, fragte Silanus bissig zurück. »Nein. Er will, dass du etwas beiseiteschaffst. Ich weiß zwar nicht, was es ist. Aber es scheint ihm wichtiger zu sein als sein Leben. Du bist wohl der Einzige, dem er zutraut, damit über den Rhein zu kommen. Und jetzt los, bevor sie sich neu formiert haben. Dem nächsten Ansturm werden wir nicht mehr standhalten.«
Caius blickte zu Fastrada, die ihn auffordernd ansah. »Beeil dich«, sagte sie nur.
Caius stapfte über den vom Kampf aufgewühlten Waldboden, auf dem dicht an dicht Tote lagen. Die Reihen hatten sich aufgelöst. Soldaten standen in kleinen Gruppen herum und redeten aufgeregt durcheinander. Nach kurzer Zeit kam der Wagen des Statthalters in Sicht, der von einer Wache aus etwa hundert Prätorianern abgeschirmt wurde. Sie ließen ihn anstandslos passieren.
Ein Sklave hielt ihm den Schlag des großen Reisewagens auf und Caius kletterte über eine dreistufige Leiter hinein. Drinnen war es ziemlich dunkel.
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