Silanus nickte ihr kurz zu und rief einen der Wachsoldaten herein. »Besorg zwei Stühle und etwas zu essen.«
Der Soldat blickte unschlüssig drein. »Stühle?«, fragte er ungläubig. »Wir haben hier keine Stühle mehr.«
Silanus machte eine ausholende Bewegung mit seinem Becher, als wollte er ihn nach dem Mann werfen. »Dann hol welche aus dem Stabszelt«, fauchte er. Der Soldat machte ein dienstbeflissenes Gesicht und verschwand.
Und Fastrada berichtete, zuerst nervös, dann zunehmend sicherer, von ihrer Beobachtung. Silanus zischte ab und zu durch die Zähne, und aus den Augenwinkeln sah Fastrada, dass Caius sie mit offenem Mund anstarrte, als sie von Rullianus und seinem Plan erzählte.
Irgendwann betrat der Wachsoldat wieder das Zelt, er hatte tatsächlich zwei Klappstühle aufgetrieben. Während Fastrada zum Ende ihrer Geschichte kam, brachte ein zweiter Legionär eine Schale mit Weintrauben und Geflügelfleisch. Hungrig machte sich Fastrada darüber her.
»Die Geschichte ist so haarsträubend, dass sie eigentlich nur wahr sein kann«, sagte Silanus nach einer Weile. »Es überrascht mich nicht mehr, dass die XIX. verschwunden ist.« Er stand auf und straffte sich. »Wir müssen Varus Meldung machen. Sofort.« Er überlegte kurz, während Fastrada weiter das Essen in sich hineinschlang.
Dann winkte er den Soldaten zu sich heran. Seine Stimme war scharf. »Hol den Statthalter hierher. Auf der Stelle. Versuch es so einzurichten, dass niemand Fragen stellt. Wenn er schläft, lass ihn wecken. Und beeil dich.«
Der Soldat verschwand in der Dunkelheit, und es dauerte nicht lange, bis ein Mann das Zelt betrat, der den kleinen, schwach von den beiden Fackeln erhellten Raum vollständig zu füllen schien. Er war schon älter und trug einen weißen Feldherrenmantel. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es konnte nur Varus sein – der Mann, von dem Irmin seit Monaten gesprochen hatte, der Mann, der in ihrem Land mehr zu sagen hatte als alle Stammesführer zusammen.
»Was gibt es?«, fragte der Statthalter und sah zuerst Silanus, dann Caius und schließlich Fastrada an. Caius stand zögernd auf und wollte Varus seinen Platz anbieten, der aber machte keine Anstalten, sich hinzusetzen, und Caius sank zurück.
»Hör dir die Geschichte an«, sagte Silanus und begann Fastradas Bericht zu resümieren.
Varus schien in sich zusammenzusacken, und als die Rede darauf kam, dass Rullianus nach etwas suchte, was sich in seinem Gepäck befand, warf er Caius kurz einen drohenden Blick zu, den Fastrada nicht zu deuten wusste. Anschließend löcherte er sie mit Fragen, während er rastlos im Zelt auf und ab ging. Wie viele Krieger Irmin versammelt habe, wollte er wissen, wie sie ausgerüstet seien, ob sie mit sich verhandeln lassen würden und einiges mehr. Viel wusste Fastrada nicht.
Schließlich blieb Varus stehen und blickte wortlos zum Zelteingang. Nach einer langen Pause wandte er sich an Silanus. »Was sollen wir machen?«, fragte er.
Silanus schwieg und stierte vor sich hin. »Rullianus muss sofort ausgeschaltet werden«, murmelte er dann.
»Wir haben vorhin ein Lebenszeichen von der XIX. bekommen«, sagte Varus. »Ein Reiter hat sich durchgeschlagen. Sie lagern vier oder fünf Meilen nördlich von uns und wollen morgen dazustoßen.«
»Schick ihm eine Patrouille entgegen und lass ihn festsetzen«, sagte Silanus.
»Unmöglich, das erregt zu viel Aufsehen und macht den letzten Rest von Kampfmoral zunichte. Wir brauchen die XIX. noch. Unsere Verluste waren heute viel schlimmer als gestern. Die Hälfte der Männer ist tot oder nicht mehr einsatzfähig. Wenn das morgen so weitergeht, sind wir am Ende.«
»Hat der Bote begründet, warum die XIX. uns verloren hat?«
»Ja, und es passt zu dem, was wir gerade gehört haben. Sie sind abgetrennt worden und haben einen anderen Weg genommen.«
»Das spricht dafür, dass Rullianus seinen Plan verwirklicht hat.«
»Nicht ganz. Die XIX. ist den ganzen Tag über schweren Angriffen ausgesetzt gewesen. Offenbar hat sich Arminius nicht an die Absprachen gehalten.«
»Das scheint er irgendwie nie zu tun.«
Fastrada schauderte, als sie sich in Erinnerung rief, wie nahe ihr der Mann einmal gestanden hatte, von dem hier die Rede war. In diesem Augenblick fühlte sie sich ihm völlig fremd. Caius legte ihr eine Hand auf die Schulter, als ahnte er ihre Gedanken.
Varus holte tief Luft. »Das ist der schlimmste Verrat in unserer ganzen Geschichte«, wetterte er und seine Mundwinkel zitterten. Dennoch wirkte er eher maßlos enttäuscht als wütend. »Wenn wir uns schon gegen uns selbst verschwören, dann möchte ich nicht erleben, wie es weitergeht«, fügte er mehr an sich selbst gerichtet hinzu. »Ich kann gegen Rullianus im Augenblick nichts unternehmen. Wir sitzen jetzt alle in einem Boot. Wenn das hier zu Ende ist, wird er dafür bezahlen. So oder so.« Dann wandte er sich abrupt zum Gehen. Im Zelteingang drehte er sich noch einmal um. »Alles, was hier geredet wurde, bleibt unter uns«, sagte er. »Sorg dafür, dass das Mädchen mit niemandem spricht. Kann man sich auf sie verlassen?«
»Sonst wäre sie wohl nicht hier«, murmelte Silanus. Daraufhin verschwand Varus mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.
Eine bleierne Stille legte sich über sie. Fastrada war verzweifelt. Wie es aussah, würden Irmin und seine Leute morgen oder spätestens übermorgen zum Gnadenstoß ausholen. Kurz kam ihr der Gedanke, sofort mit Caius in die Nacht hinauszureiten und sich mit ihm allein durchzuschlagen, doch ihr war klar, dass ihnen dazu die Kräfte fehlten.
»Wir sollten nun alle schlafen«, brach Silanus das Schweigen. »Morgen wird ein anstrengender Tag.« Er lachte schief. »Dieser Satz macht keinen Eindruck mehr, was?«
Sie erhoben sich von den Stühlen, ohne das Gespräch mit dem Statthalter weiter zu erörtern.
»Wir können doch hier schlafen, oder?«, fragte Caius mit matter Stimme.
Silanus zog eine Augenbraue hoch und blickte Caius an. »Hatte Apoll ein Dach als liebegirrender Hirte? Willst du es besser als er, der ein Gott ist, törichter Knabe?«
Fastrada musste lächeln. Irgendwie imponierte ihr dieser merkwürdige Mensch. Caius stöhnte auf. Er war eindeutig zu müde, um eine geistreiche Antwort zu geben.
Silanus lachte. »Natürlich könnt ihr hier schlafen«, sagte er. Dann schickte er sich an, die Fackeln zu löschen.
Caius reichte Fastrada eine Decke. Sie legte sich neben ihn auf den Boden und schmiegte sich eng an ihn. Eine merkwürdige Erregung wallte trotz der Müdigkeit in ihr auf.
»Schlaft gut«, meldete sich Silanus noch einmal aus der Schwärze. »Und eins noch: Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass ich auch hier bin.« An seiner Stimme hörte Fastrada, dass er grinste.
Caius schlief unruhig, immer wieder musste er sich vergewissern, dass Fastrada neben ihm lag. Erst wenn er ihre Wärme neben sich unter der Wolldecke spürte, ihren Atem hörte und fühlte, wie ihre Brust sich hob und senkte, wusste er, dass er alles nicht nur geträumt hatte. Mit beiden Armen hatte er sie umschlungen und sie dicht an sich gezogen. Einmal konnte er der Verlockung nicht widerstehen, sie zu küssen. Er war erstaunt, als sein Kuss erwidert wurde. Es war ein magischer Augenblick zwischen Wachen und Schlafen, gegen den die bevorstehenden Gefahren unbedeutend erschienen.
Wieder erklangen vor Sonnenaufgang Hornsignale und wieder erwachte das ganze Lager von einem Moment auf den anderen zum Leben.
Während sich Fastrada seufzend auf die Seite wälzte und Silanus auch noch zu schlafen schien, stand Caius auf und schlich sich aus dem Zelt.
Draußen nahmen die ersten Abteilungen Aufstellung, doch vom einstigen Stolz des Imperiums war nicht viel geblieben: Zerbeulte Panzer, blutverkrustete Uniformteile, mit schmutzigen Verbänden umwickelte Gliedmaßen und Köpfe, von Müdigkeit und Anstrengung ausgezehrte, unrasierte Gesichter zogen an ihm vorbei, während andere ihre verbliebenen Habseligkeiten zusammenrafften und sich hinter den Feldzeichen sammelten, die von ihren Trägern immer noch trotzig in die Höhe gereckt wurden. Einige Syrer hasteten vorbei und hätten Caius um ein Haar umgerannt. Zwei Legionäre stritten um ein liegen gebliebenes Paket mit Essensrationen, bis ein Centurio dazwischenging. Alle schienen langsam dazu überzugehen, nur an sich selbst zu denken. Maultiere wurden vor die verbliebenen Wagen gespannt, auf denen sich Schwerverwundete stapelten. Ein Mann ohne Uniform war dabei, die Verletzten anzusprechen. Auf ein Zeichen von ihm zerrten zwei Legionäre einen leblosen Soldaten vom Wagen, der offenbar in der Nacht gestorben war. Irgendwann kam jemand mit einem Bündel Stroh und stopfte es büschelweise in die Glocken der Maultiere.
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