Bald waren kaum noch genügend Wagen vorhanden, um die Verwundeten zu transportieren. Melder galoppierten nach hinten, um die Nachzügler zum schnellen Aufschließen anzutreiben und die Kolonne zusammenzuhalten, in der immer größere Lücken klafften. Die Zahl der Gegner hatte sich beträchtlich vermehrt. Zuweilen dröhnte Gebrüll aus dem Wald, ohne dass sich jemand blicken ließ, und jedes Mal geriet der Zug aufs Neue ins Stocken. Gerüchte flogen von Mund zu Mund: Von gefangenen Centurionen war die Rede, die furchtbar zugerichtet entlang des Weges an Bäume gebunden aufgefunden und auf Anordnung der Offiziere sofort entfernt worden waren, um die Moral nicht weiter zu schwächen. Der kürzeste Weg an die Lupia hätte über den Höhenzug im Süden geführt, ein Abschwenken in diese Richtung erschien den meisten Offizieren aber zu riskant, weil das Bergland den Aufständischen zahllose Gelegenheiten für Hinterhalte bot. Schließlich schickte man Kundschafter in alle Richtungen. Ob sie zurückkehren würden, war ungewiss.
Und es kam noch schlimmer. Irgendwann am frühen Nachmittag wurde zur Gewissheit, was seit einigen Stunden befürchtet wurde: Die XIX. Legion war vom Ende des Zuges abgetrennt worden, über ihren Verbleib gab es keine sicheren Nachrichten. Offenbar hatten die Barbaren bei einem großen Angriff auf den Tross der in der Mitte der Kolonne marschierenden XVIII. Legion so viele Wagen umgestürzt und angesteckt, dass es dahinter kein Durchkommen mehr gab. Varus ließ den Zug anhalten, Boten rasten unablässig hin und her, und irgendwann war tatsächlich ein Meldereiter von Rullianus darunter, der berichtete, die XIX. habe den Hauptweg verlassen und sei dabei, sich weiter nördlich auf einer parallel verlaufenden Route durchzuschlagen. Das Heer würde mindestens bis zum Abend aufgespalten sein, und genau das schienen Arminius und seine Leute beabsichtigt zu haben. Schließlich schallten wieder Hornsignale durch die Bäume, und die Kolonne ruckte an. Stockend ging es weiter. Nach einer halben Stunde marschierten sie wieder einigermaßen zügig.
Caius hielt sich dicht hinter dem Stab mit den Wagen, die von einer undurchdringlichen Mauer aus Legionären und Prätorianern abgeschirmt wurden. Er fühlte, wie die Kräfte ihn verließen. Regen tropfte vom Rand des Helms, sickerte über sein Gesicht und unter die Rüstung. Bald hing er mehr auf dem Rücken des Pferdes, als darauf zu sitzen. Seine Hände und Füße waren eiskalt und er schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Irgendwann öffnete sich die lebende Wand aus Panzern und Schilden vor ihm und gab Silanus frei.
Er saß reglos auf seinem Pferd und wartete, bis Caius zu ihm aufgeschlossen hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte der Tribun teilnahmsvoll.
Caius nickte müde. »Wie lange soll das denn noch so weitergehen?«
»Bis es zu Ende ist.«
»Schöner Trost.«
Silanus legte die Stirn in Falten. »Reiß dich zusammen. Gleich kommt eine Lichtung.«
»Wann ist denn gleich?«
Silanus lächelte. »Gleich ist, wenn du anfängst, es zu glauben.«
Caius lachte freudlos auf. »Dann fange ich jetzt also an, es zu glauben«, sagte er spöttisch.
Kurz darauf löste sich ein weiterer Reiter aus der Reihe der Wachen vor ihnen und wandte sich direkt an Silanus. »Wir haben gerade Meldung bekommen, dass die Spitze des Zuges eine Lichtung im Wald erreicht hat.«
Silanus lachte triumphierend auf und blickte zu Caius. »Was habe ich gesagt?«
Es ging schon gegen Abend zu, da tauchte vor ihnen zwischen den Stämmen tatsächlich eine freie Fläche auf. Es war eine riesige, leicht abschüssige Ebene, die erst fern am Horizont wieder vom Wald begrenzt wurde. Ein Raunen ging durch die Reihen der Soldaten, und der Marschtritt beschleunigte sich. Bald sprang die beklemmende Enge der Bäume zurück. Die Sonne brach am Horizont zaghaft durch den aufreißenden Himmel und ließ die Wolkenfetzen zartrosa aufleuchten. Immer noch regnete es, und während sich der Zug aus Menschen, Tieren und Wagen über die dunkelgrün daliegende Fläche ergoss, zeigte sich ein blasser Regenbogen. Soldaten stießen sich an und zeigten zum Himmel, riefen sich etwas zu, eine fast schon hysterische Euphorie pflanzte sich von einem zum anderen fort, als seien das Erreichen des freien Geländes und das Erscheinen des Regenbogens gleichbedeutend mit dem Ende aller Gefahren, als befänden sie sich nicht fünf oder sechs Tagesmärsche von der rettenden Grenze zu Gallien, ohne Vorräte und ohne Gepäck, abgekämpft und übermüdet und umgeben von Gegnern. Caius konnte sich von der Begeisterung nicht mitreißen lassen. Wahrscheinlich sahen nicht weit von hier die Barbaren ebenfalls zum Himmel auf und deuteten den Regenbogen als eine Aufforderung ihrer Götter, den Römern endgültig den Garaus zu machen.
Er ritt weiter hinter dem waffenstarrenden Karree her, das Varus und sein Gefolge umgab, während der Wald hinter ihm pulkweise Soldaten und Trossleute ausspuckte und Reiter zu den Seiten ausschwärmten, um das Gelände zu sichern. Wieder erklangen Signale, überall formierten sich Gruppen, traten unter den Feldzeichen zusammen, strebten bestimmten Punkten am Rand der für das Lager vorgesehenen Fläche zu, fächerten sich zu langen Reihen auf und begannen einen Graben auszuheben. Einige wenige Wagen rollten heran, Säcke, Kisten und prall gefüllte Wasserschläuche wurden abgeladen und verteilt, Befehle echoten über die weite Fläche. Trotz der schrecklichen Ereignisse funktionierte die Maschine noch immer, als sei nichts geschehen, wie Caius verwundert feststellte. Es dauerte keine Stunde, dann war das notdürftige Nachtlager fertig, eigentlich eine triste Anlage, die jedoch allen, die sich innerhalb des Walls befanden, ein Mindestmaß an Sicherheit vermittelte.
Caius stand unschlüssig herum, während neben ihm das Pferd im moosigen Boden herumschnupperte. Erste Fackeln loderten auf.
»Du da!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Hast du nichts zu tun?«
Caius drehte sich um. Ein älterer, dicklicher Centurio trat auf ihn zu. Im Näherkommen schien er Caius zu erkennen, offenbar wusste ja nun langsam jeder, wer er war. Der Centurio blieb ein paar Schritte vor Caius stehen, seine grauen Haare waren schweißverklebt, seinen Helm mit dem quer sitzenden roten Federbusch trug er unter den Arm geklemmt.
»Nein«, sagte Caius, der die barsche Frage fast schon mit Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte. »Aber ich mache mich nützlich, wenn ich kann.«
»Das hört man gern«, brummte der Centurio. »Ich brauche einen Mann für die Wache auf dem Wallabschnitt da hinten«, sagte er und wies in Richtung des Waldsaums, der still und dunkel dalag, als hätte er seine Schuldigkeit getan. »Melde dich dort und lass dich einweisen«, sagte der Centurio. »In zwei Stunden ist Ablösung. Dann kannst du was essen.«
Caius nickte und machte sich auf den Weg. Am Fuß des Walles standen einige Legionäre, die ihm eine brennende Fackel in die Hand gaben und ihn auf einen Abschnitt an der Schmalseite des Lagers schickten. Caius erklomm die knapp mannshohe Aufschüttung in der Mitte des ihm zugewiesenen Teilstücks und begann auf und ab zu gehen, die Augen angestrengt auf den Waldrand geheftet. Obwohl er den ganzen Tag keine Gelegenheit gehabt hatte, sich auzuruhen, war seine Müdigkeit unbemerkt von ihm abgefallen. Selbst der Brustpanzer schien leichter geworden zu sein. Fast hoffte er, dass irgendetwas passierte, nur damit er Meldung machen und damit seiner Aufgabe einen Sinn geben konnte. Du bist wahnsinnig, dachte er. Angesichts der grotesken Situation musste er unwillkürlich grinsen. Mit schief sitzendem Helm, verbeultem Brustpanzer und einem völlig zugeschwollenen Auge schob er Wachdienst auf dem Wall eines notdürftigen Lagers, das zwei halb zerschlagene Legionen irgendwo im Barbarenland errichtet hatten – sein Vater hatte sich seinen Aufenthalt in der neuen Provinz wohl etwas anders vorgestellt.
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