Draußen weht ein kühler Frühlingswind und am Himmel hängen bleierne Wolken. Unbequem und kalt.
– «Ivanova!» – Ich höre eine bekannte Stimme. Eine Klassenkameradin, Galya Stroeva, nähert sich. – «Hast Du dich auf den Test in Biologie vorbereitet?».
«Verdammt!», denke ich. – «Das habe ich total vergessen. – Der jährliche Kontrolltest-. Mist».
– «Und du?» – frage ich bedrückt.
– «Ich gehe schnell zum Kiosk und dann werde ich lernen», – antwortet Galka.
Ich weiß, dass ich auch nach Hause gehen sollte um zu lernen, aber ich wandere eine Zeit lang nutzlos durch die schmutzigen Varvarovskiy-Straßen.
Ohne einen meiner Freunde zu treffen, gehe ich niedergeschlagen nach Hause, um meine Strafe abzuholen. Aber ich habe Glück – meine Mutter ist irgendwo hingegangenen und etwas zu erledigen.
Ich setze mich an mein Biologie-Lehrbuch, kann mich aber nicht konzentrieren: Die Linien verschwimmen vor meinen Augen, meine Gedanken springen und ich kann sie einfach nicht sammeln.
Bald verstehe ich, dass der Himmel schneller zu Boden fällt, als ich den Stoff lernen kann. Ich seufze und ziehe ein Stück kariertes Papier heraus – auf genauso einem schreiben wir morgen den Test. «Die Struktur des Herzens» – Ich schreibe den Titel heraus und beginne gewissenhaft, meine Zunge vor Eifer herausstreckend, das Diagramm aus dem Lehrbuch ab zu zeichnen.
Abends, bevor ich ins Bett gehe, lese ich noch ein Märchen zu Ende. Ich muss sagen, dass ich es liebe zu lesen. Vor allem Märchen und allerlei romantische Geschichten. Denn in meiner Vorstellung erwachen die Zeilen zum Leben und ich scheine alles, was darin passiert, direkt vor mir zu sehen.
Ich werde in die erfundene Welt versetzt und fühle mich so wohl
– es gibt edle und starke Helden, wunderschöne Prinzessinnen und so eine magische, faszinierende Welt.
Dieses Märchen handelt von dem Ritter, dem die magischen Lichter im Wald einen Deal boten:
Sie nehmen sein lebendiges Herz, tauschen es gegen ein steinernes aus und verleihen im Gegenzug Macht und Reichtum – viele Untertanen und einen Berg von Münzen und Gold.
«Wieder das Herz» – fällt mir auf.
Ich versuche mich zu erinnern, ob ich den «Spickzettel» in meine Tasche gesteckt habe.
Der Ritter stimmt dem Deal zu. Und aus einem fröhlichen und gütigen Menschen wird ein herrischer und böser Tyrann.
Was wollt ihr – das Herz ist ja jetzt aus Stein.
Der Ritter erholt sich und bittet die Lichter darum den Deal wieder rückgängig zu machen. Aber sie stellen eine Bedingung – sie werden ihm sein Herz zurückgeben, aber es muss erst von einer anderen lebenden Person weggenommen werden.
Das bescheidene Mädchen Maria, welches sich schon vor langer Zeit in den Ritter verliebt hat, als er noch ein freundlicher Mensch war, stimmt einem solchen Opfer zu. Der Ritter bereut es in dem Moment, in dem die Lichter dem Mädchen ihr Herz wegnehmen wollen, so sehr, dass vor Sorge sein versteinertes Herz anfängt plötzlich zu schlagen und warm wird. Das Mädchen wird gerettet, die Liebenden heiraten und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Ich blättere die letzte Seite um und liege eine ganze Minute reglos da, erlebe die Höhen und Tiefen, die den Helden widerfahren sind.
Dann seufze ich schwer. Im Märchen endet alles gut, wenn es nur so im Leben wäre! Und mir steht morgen ein Test bevor, es ist wie ein Weltuntergang! Und es wird kein Prinz auf einem weißen Pferd angaloppiert kommen um zu helfen!
Eigentlich bin ich gut in der Schule. Ein braves Mädchen. Man kann sogar sagen, dass ich mit eine der Besten in der Klasse bin. Ich und Galya Stroeva. Einerseits habe ich Glück – «Klasse A» hat gleich drei ausgezeichnete Schüler und eine Menge «zweier Schüler». Und wir, wir sind eine «Schlawinerklasse», mit schrecklichem Verhalten. Die Lehrer mögen uns nicht und halten sich an der Wand, wenn wir zum Mittagessen in die Cafeteria laufen.
Man kann nicht sagen, dass ich ein großes und tiefes Wissen habe. Ich bin nur listig. Irgendwo abschreiben, irgendwo um Hilfe zu bitten, irgendwo um den Prozess zu leiten. Ja, was? Ich bin verantwortungsbewusst, nicht ohne Grund – der Klassensprecher. Jemand mag sicherlich sagen – Betrug ist nicht gut, Betrug ist unehrlich.
Das sind wahrscheinlich diejenigen, die nie «Spickzettel» geschrieben haben? Gibts solche? Machen wir uns nichts vor. Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln ein Ergebnis zu erzielen, ist auch eine Fähigkeit. In unserer Welt, damals wie heute, ist es unmöglich, fehlerfrei zu existieren. Wir werden von Kompromissen geführt.
Wann, wenn nicht in der Schule, den Grundstein für gewinnbringende Kommunikation legen? Ich schäme mich immer noch nicht im Geringsten, dass die Schülerin Valya Ivanova auf solche Tricks zurückgegriffen hat, um eine gute Note zu bekommen. Aber Valya Ivanova wird dafür niemals verloren gehen.
Jetzt muss ich den Moment nutzen, solange Lyudmila Grigorievna, unsere Biologielehrerin, mir den Rücken zukehrt. Davor lief sie, wie eine strenge Wache, durch die Reihen und betrachtet die Blätter, als erwartete sie einen Fang.
Meine Hände beginnen zu schwitzen und das Bild mit dem aufgemalten Herzen brennt durch meine Hosentasche, als würde es glühen.
Komm schon! Der Himmel erhört mich und Lyudmila Grigorievna dreht mir für lange fünfzehn Sekunden wirklich den Rücken zu. Meine Hände ersetzen mit einer Geste die Blätter und ich tue so, als ob ich sehr schlau wäre, indem ich Bewegungen mit einem Stift nachahme. Als sich die Biologielehrerin umdreht, sieht sie eine Valya Ivanova, für die sie pädagogische Inspiration gefunden hat – wie sie m selbstsicher den Test schreibt.
Aber das andere kann sie nicht sehen – wie verrückt das Herz von Valya Ivanova pocht. Es scheint mir, als ob das Herz – ohne Übertreibung – jetzt aus der Brust springen wird. Ich betrachte das Blatt mit einem, vom Adrenalinschub, nebligen Blick, und sehe, dass mein gezeichnetes Herz zu pochen beginnt – ja, genau! – seine Ränder sind verschwommen, und es scheint an Größe zu – und abzunehmen.
«Wie im Märchen», denke ich am Rande des Bewusstseinsverlusts, «wurde auch mein gemaltes Herz lebendig!»
Als uns am nächsten Tag die Noten vorgelesen werden, bin ich ganz entspannt.
«Ivanova – eins», – sagt die Biologielehrerin und starrt mich ungläubig an.
Aber es gibt nichts zu bemängeln. Meine eingereichte Arbeit ist perfekt.
Ich empfinde keine Reue. Bis heute. Zwanzig Jahre später. Denn auch heute halte ich diese Note für wohlverdient.
– «Ivanova», – Zhenya Sobol flüstert mir ins Ohr. – «Die Jungs haben Blätter gefunden, lass uns Rauchpfeifen machen».
– «Los», – flüstere ich zurück und überlege mir, wie ich es hinbekommen könnte, dass meine Schuluniform nicht nach Rauch stinkt. Wenn meine Mutter es riecht – bringt sie mich um!
«Nein», entschied ich für mich. – «So kann es nicht weitergehen! Wer bin ich denn? Ein wachsendes Arbeitstier? Welches bald selbst ein Pferd wird? So viel Verantwortung hängt meine Mutter mir an! – Behalte die Kuh im Auge. Den Mist aufräumen. Die Kartoffeln schälen. Den Kleinen helfen, zu Hause aufräumen, Staub wischen, das Feuerholz tragen, Brei kochen, Brötchen backen!
Was soll ich denn noch alles tun?! Und das Beleidigende ist, wenn ich doch so erwachsen bin (nach meinen Pflichten zu urteilen), warum darf ich nur bis 22:30 draußen sein?!»
Ich horche nochmal. Das Haus ist ruhig. Nachdem ich um 22:29 nach Hause zurückgekehrt war, beruhigten sich meine Eltern schnell und schliefen anscheinend ein. Sicherheitshalber beschließe ich, noch zehn Minuten zu warten. Starrte ausdruckslos an die dunkle Decke und war wütend über die Ungerechtigkeit der Welt.
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