»Okay«, sagte sie schließlich. »Fertig.«
»Ich will nicht mit«, sagte Billy.
»Du musst aber.«
»Warum?«
Trish blickte ihren Sohn an. Billy war reif für sein Alter, intelligent und kräftig, doch in den vergangenen zwei Monaten hatte er mit Dingen klarkommen müssen, mit denen die meisten Erwachsenen es nie zu tun bekamen. Trish spürte, wie eine seltsame Traurigkeit sie überkam, während sie in Billys müdes Gesicht blickte. Sie hatte immer gewollt, dass Billy so lange wie möglich Kind blieb und nicht zu schnell erwachsen wurde. Die Kindheit war eine besondere, eine magische Zeit, die man nur einmal erlebte. Zugleich war Trish der Ansicht, dass man Kinder nicht vor der Wirklichkeit abschirmen sollte. Ob es ihnen gefiel oder nicht, am Ende mussten sie in der realen Welt leben, und sie konnten sich besser in diese Welt hineinfinden, wenn sie angemessen darauf vorbereitet wurden.
Dieser Sommer jedoch - das war nicht die reale Welt gewesen. Die entsetzlichen Ereignisse der letzten zwei Monate würden Billy nicht auf die Zukunft vorbereiten. Nichts Vergleichbares würde jemals wieder geschehen.
Trish starrte Billy an, sah das Flehen in seinen müden Augen. Ihre Stimme wurde weich. »Okay«, sagte sie. »Du musst nicht mitfahren.«
Billy lächelte erleichtert, auch wenn in seinen Augen noch etwas anderes, Lauerndes lag. Die furchtbaren Geschehnisse hatten bei ihm wahrscheinlich Narben hinterlassen, von denen sie niemals erfahren würde. »Danke«, sagte er.
»Aber du musst im Haus bleiben«, warnte sie ihn. »Schließ alle Türen ab, und lass niemanden rein, bis wir zurück sind. Verstanden?«
Billy nickte.
»Okay.« Sie blickte zu Doug hinüber und sah sein zustimmendes Lächeln. Es schadete nie, vorsichtig zu sein.
Billy zog sich an und stand auf der Veranda, als seine Eltern in den Wagen stiegen und die Auffahrt hinunterfuhren.
Er ging ins Haus zurück und schloss die Tür ab. Sein Blick wurde auf die Sperrholzplatte gezogen, die immer noch das zerbrochene Fenster abdeckte. Er hoffte, dass bald dieser Typ kommen und das Fenster reparieren würde. Die Platte half beim Fernsehen am Nachmittag, weil sie das blendende Sonnenlicht nahezu völlig aussperrte, aber sie machte das Haus auch dunkel.
Dunkelheit mochte er nicht.
Billy wusste noch nicht, was er unternehmen würde, wenn seine Eltern zurück waren. Er überlegte, ob er die Zwillinge anrufen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er sie eigentlich nicht sehen wollte. Viel lieber wollte er etwas mit Lane unternehmen, aber er hatte Angst, seinen alten Freund anzurufen. Nachdem der Postbote weg und alles vorbei war, war Lane vielleicht wieder normal ... Aber vielleicht auch nicht, und Billy war nicht mutig genug, das herauszufinden.
Jetzt musste er erst einmal zur Toilette. Er ging durch die Küche in den Flur, betrat das Badezimmer und öffnete seinen Gürtel.
Dann erstarrte er.
Auf dem Rand des Waschbeckens stand ein Umschlag.
Ein zweiter lag auf dem geschlossenen Toilettendeckel.
Am liebsten hätte Billy losgeschrien, aber er wusste, dass niemand ihn hören würde. Seine Schreie würden nur alarmieren, wer immer da draußen war.
Der Postbote ...?
Oder hier drinnen.
Billy zog sich in das Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Auf der Frisierkommode sah er einen verschlossenen Umschlag, einen anderen auf dem Bett.
Das Haus erschien ihm plötzlich unheimlich und Furcht erregend. Langsam, schweigend, ging er in das vordere Zimmer. Er merkte, dass die Platte vor dem Fenster fast den halben Raum ins Dunkel tauchte und schattige Ecken erzeugte, in denen sich jemand verstecken konnte.
Dann entdeckte Billy eine Spur aus Umschlägen, die die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer führte.
Vorsichtig hob er den Hörer des Telefonapparats neben dem Fernseher ab. Die Leitung war tot.
Von oben hörte er ein Rascheln.
Er musste hier raus! Aber wohin konnte er gehen? Es gab nicht viele Häuser in der Nähe. Er konnte mit Sicherheit nicht zu den Nelsons gehen. Er konnte auch nicht zu Lanes Haus.
Das Fort!
Ja, das Fort. Er konnte zum Fort gehen und dort warten, bis seine Eltern nach Hause kamen. Er würde sich dort verstecken können und wäre in Sicherheit.
So leise er konnte öffnete Billy die Vordertür und ging auf die Veranda. Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen. Er blieb bewegungslos stehen und horchte, ob sich oben irgendetwas tat, bereit, sofort loszurennen. Doch er hörte nichts.
Billy war sich vorher nie bewusst gewesen, wie viele Geräusche die Veranda tatsächlich machte, und es schien eine quietschende und knarrende Ewigkeit zu dauern, ehe er die Stufen erreichte und sie hastig hinunterstieg. Der Kies unter seinen Füßen knirschte laut wie Donner, doch er ignorierte es und rannte so schnell er konnte den Weg zum Fort entlang. Er sprang über die vertrauten Felsbrocken und Baumstämme, machte einen Bogen um die berüchtigten Mesquitebüsche mit ihren langen Dornen. Mit einem Sprung war er auf dem getarnten Dach des Forts. Dann ließ er sich hineinfallen, schloss und verriegelte die Klapptür.
Einen Augenblick lang lag er am Boden, nach Atem ringend, versuchte die Luft anzuhalten und horchte, ob jemand ihn verfolgte. Doch das einzige Geräusch, das er hörte, war das abscheuliche Krächzen eines Eichelhähers in einem weit entfernten Baum.
Er war in Sicherheit.
Billy stand auf und betete, dass seine Eltern bald nach Hause kommen würden. Dass er bald das Geräusch ihres Wagens hören würde.
Wieder horchte er auf jedes fremde Geräusch, doch es war still.
Billy schaute sich im Hauptraum um. Jetzt, da Lane weg war, wirkte das Fort verlassen. Wenn er sonst ohne Lane hierhergekommen war, war es auch merkwürdig gewesen, aber es war immer noch ihr Fort gewesen. Jetzt wusste Billy nicht genau, wem es eigentlich gehörte. Das Fort befand sich im Grüngürtel nahe dem Haus seiner Eltern, aber das Baumaterial stammte von Lanes Vater, und sie hatten die ganze Arbeit gemeinsam erledigt. Es war seltsam ohne Lane.
Langsam bewegte Billy sich durch den Raum wie ein Fremder, berührte Gegenstände, die ihm einst vertraut gewesen waren, von denen er sich nun jedoch unglaublich weit entfernt fühlte. Alles kam ihm fremd vor, unheimlich, als gehörte es ihm nicht mehr. So musste ein Haus auf Leute wirken, die sich hatten scheiden lassen.
Immer wieder blieb er stehen, verharrte, horchte, ob es draußen irgendwelche Geräusche gab. Aber da war nur Stille.
Billy ging ins Hauptquartier und blickte auf den Stapel Zeitschriften auf dem Boden. Sogar die Playboys schienen ihm nicht mehr zu gehören - und ebenso wenig Lane. Die Zeitschriften schienen irgendwo in einer zeitlosen Zwischenwelt gefangen zu sein, ohne Eigentümer. Billy nahm eines der Hefte in die Hand. Es klappte »Girls in Uniform« auf und sah den nackten Körper der Briefträgerin.
»Billy Albin«, sagte eine Stimme.
Er bewegte sich nicht, hielt den Atem an und versuchte, kein Geräusch zu machen. Sein Herz hämmerte wild.
»Billy Albin.«
Der Postbote war direkt vor dem Fort. Irgendwie hatte er Billy aufgespürt und war ihm gefolgt. Billy war zu entsetzt, um sich zu bewegen. Unfähig, noch länger den Atem anzuhalten, versuchte er, leise auszuatmen, doch in der Stille klang das Geräusch wie ein Hurrikan. Die Schritte draußen verstummten.
»Billy.«
Er rührte sich nicht.
»Billy.«
Nun kam die Stimme von der anderen Seite, obwohl Billy keine Schritte gehört hatte, kein raschelndes Laub, überhaupt kein Geräusch.
»Billy.«
Wieder war da die Stimme - ein leises, beharrliches Wispern. Er wollte schreien, wagte es aber nicht. Der Postbote wusste offensichtlich, wo er war, doch Billy wollte es ihm nicht auch noch bestätigen. Vielleicht, wenn er sich ganz ruhig verhielt und abwartete, vielleicht würde der Postbote dann weggehen ...?
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