»Aber sie liegt da, P. J., das kannst du doch nicht leugnen!«
Joey weint. Der kalte Regen, der ihm ins Gesicht peitscht, macht seine Tränen unsichtbar, aber er weint.
P. J. schüttelt ihn leicht bei den Schultern. »Für wen hältst du mich, Joey? Um Himmels willen, für wen hältst du mich? Ich bin dein Bruder, dein großer Bruder, oder etwa nicht? Glaubst du, ich hätte mich in New York in ein Monster verwandelt?«
»Sie liegt in deinem Kofferraum«, ist alles, was Joey hervorbringen kann.
»Ja, okay, sie liegt da drin, und ich habe sie reingelegt, aber ich habe ihr nichts angetan, ich habe sie nicht verletzt.«
Joey versucht sich loszureißen.
P. J. hält ihn fest, preßt ihn gegen die Stoßstange, so als wollte er ihn zu der Toten im Kofferraum stoßen. »Verlier nicht die Nerven, Junge. Ruiniere nicht uns alle. Bin ich dein großer Bruder? Kennst du mich nicht mehr? Bin ich nicht immer für dich dagewesen? Ich bin immer für dich dagewesen, und jetzt mußt du für mich dasein, nur dieses eine Mal.«
Schluchzend sagt Joey: »Nein, P. J., bei so etwas kann ich nicht für dich dasein. Bist du verrückt?«
P. J. redet eindringlich auf ihn ein, mit einer Leidenschaft, der Joey sich nicht entziehen kann. »Ich habe immer auf dich aufgepaßt, ich habe dich immer geliebt, mein kleiner Bruder! Wir beide gegen den Rest der Welt. Hörst du? Ich liebe dich, Joey. Weißt du nicht, daß ich dich liebe?« Er läßt Joeys Schultern los und packt ihn statt dessen am Kopf, preßt seine Schläfen mit den Händen zusammen. Joey hat das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein. In P. J.s Augen steht mehr Schmerz als Furcht geschrieben. Er küßt Joey auf die Stirn. Seine Worte und sein eindringlicher Ton üben eine hypnotische Wirkung auf Joey aus. Halb in Trance, kann er sich nicht einmal bewegen. Und er hat Mühe, klar zu denken. »Joey, hör zu, Joey, Joey, du bist mein Bruder - mein Bruder! Und das bedeutet mir alles; du bist mein Blut, du bist ein Teil von mir. Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Weißt du das nicht? Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Und liebst du mich nicht auch?«
»Doch ... doch.«
»Wir lieben einander, wir sind Brüder.«
»Das macht es ja so schlimm«, schluchzt Joey.
P. J. hält seinen Kopf noch immer umfangen, ihre Nasen berühren sich fast, und er blickt Joey tief in die Augen. »Wenn du mich liebst. Junge, wenn du deinen großen Bruder wirklich liebst, mußt du mir zuhören. Hör zu, damit du verstehst, was passiert ist. Okay, Joey? Okay? Ich werde dir erzählen, was passiert ist. Ich bin die Pine Ridge entlanggefahren, du weißt schon, die alte Landstraße. Ich bin einfach ziellos durch die Gegend gefahren, wie wir es als Schüler oft getan haben. Du kennst doch diese alte Straße mit ihren unzähligen Kurven, eine Kurve nach der anderen, und hinter einer dieser Kurven kommt sie plötzlich aus dem Wald gerannt, hetzt einen kleinen Abhang hinab, mitten auf die Straße. Ich bremse scharf, aber es ist schon zu spät. Sogar wenn es nicht geregnet hätte, wäre es zu spät gewesen. Ich kann nicht so schnell anhalten. Sie ist direkt vor mir, rennt direkt ins Auto, stürzt und wird vom Auto überrollt, bevor ich anhalten kann.«
»Sie ist nackt, P.J.! Ich habe gesehen, daß sie nackt ist!«
»Das will ich dir ja gerade erklären. Du mußt nur zuhören. Sie ist nackt, als sie aus dem Wald angerannt kommt, splitternackt, und dieser Kerl verfolgt sie.«
»Welcher Kerl?«
»Ich weiß nicht, wer er war. Habe ihn noch nie hier in der Gegend gesehen. Aber was ich sagen will, Joey - sie hat das Auto nicht gesehen, weil sie nach hinten geschaut hat, um festzustellen, ob der Kerl ihr dicht auf den Fersen war. Sie rennt, so schnell sie kann, schaut dabei nach hinten, rennt mir direkt vor das Auto, bemerkt es endlich und schreit auf, aber da ist es schon zu spät. Mein Gott, es war schrecklich! Das Schlimmste, was ich je erlebt habe! Ich kann nur hoffen, daß mir nie mehr im Leben so etwas widerfährt! Das Auto hat sie mit solcher Wucht gerammt . Ich wußte sofort, daß sie tot sein mußte .«
»Und der Kerl, der sie verfolgt hat?«
»Er bleibt wie angewurzelt auf dem Hügel stehen, als ich sie überfahre. Und als ich aus dem Auto springe, macht er kehrt und rennt auf die Bäume zu, rennt in den Wald, und ich weiß, daß ich den Mistkerl schnappen muß, und ich renne ihm nach, aber er kennt sich in dem Wald besser aus als ich. Ich verliere ihn aus den Augen, renne aber noch zehn oder zwanzig Meter auf einem Wildpfad weiter, doch dann verzweigt sich der Pfad, es sind plötzlich drei Pfade, und ich habe keine Ahnung, welchen er eingeschlagen hat. Im Wald ist es halbdunkel, und bei dem Wind und Regen kann ich ihn auch nicht hören.
Deshalb kehre ich zur Straße zurück, und sie ist tot, wie ich von Anfang an gewußt habe.« P. J. erschaudert angesichts der Erinnerung und schließt die Augen. Er drückt seine Stirn an Joeys Stirn. »O Gott, Joey, es war schrecklich, es war so schrecklich - was das Auto ihr angetan hatte, und was davor dieser Verbrecher ihr angetan hatte! Mir wurde übel, und ich mußte mich auf der Straße übergeben. Glaub mir, ich habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt!«
»Und was macht sie in deinem Kofferraum?«
»Ich hatte zufällig diese Plastikfolie dabei. Ich konnte sie doch nicht dort liegenlassen.«
»Du hättest den Sheriff rufen sollen.«
»Ich konnte sie nicht allein auf der Straße liegenlassen. Ich war völlig durcheinander, Joey, und ich hatte Angst. Sogar dein großer Bruder kann manchmal Angst haben.« P. J. läßt endlich Joeys Kopf los, rückt ein wenig von ihm ab, schaut besorgt zum Haus hinüber, sagt: »Dad schaut aus dem Fenster. Wenn wir noch lange hier herumstehen, kommt er bestimmt raus, um zu fragen, ob etwas nicht stimmt.«
»Na gut, vielleicht konntest du sie nicht auf der Straße liegenlassen, aber wenn du sie schon in deinen Kofferraum legen mußtest - warum bist du nicht mit ihr zur Polizei gefahren?«
»Ich werde dir alles erklären«, verspricht P. J. »Aber dazu sollten wir uns ins Auto setzen. Es sieht komisch aus, wenn wir hier so lange im Regen herumstehen. Setzen wir uns lieber rein und schalten das Radio ein, dann wird Dad glauben, daß wir nur ein bißchen plaudern, so zwischen Brüdern.«
Er legt einen Koffer neben die tote Frau im Kofferraum, dann den zweiten. Schlägt den Deckel zu.
Joey zittert immer noch am ganzen Leibe. Er möchte wegrennen. Nicht ins Haus. In die Nacht hinein. Quer durch Asherville und durch das ganze County, in Gegenden, wo er noch nie gewesen ist, in Städte, wo niemand ihn kennt, immer weiter und weiter in die Nacht hinein. Aber er liebt P. J., und P. J. ist immer für ihn dagewesen, und deshalb ist er verpflichtet, wenigstens zuzuhören. Und vielleicht wird ja doch noch alles gut. Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Vielleicht besteht noch Hoffnung für einen guten Bruder, der sich die Zeit nimmt zuzuhören. Etwas anderes wird ja nicht von ihm verlangt - er soll nur zuhören.
P. J. schließt den Kofferraum ab, legt seine Hand auf Joeys Nacken und drückt leicht zu, eine freundschaftliche Geste, aber auch eine Aufforderung, ins Auto zu steigen. »Komm, Junge. Laß mich dir alles erzählen, und dann überlegen wir gemeinsam, was jetzt zu tun ist. Komm, steig ein. Es ist doch nur dein großer Bruder, der dich darum bittet. Ich brauche dich, Joey.«
Sie steigen ein.
Joey setzt sich auf den Beifahrersitz.
Im Wagen ist es kalt, und die Luft ist feucht.
P. J. läßt den Motor an. Schaltet die Heizung ein.
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