Noch ist es nicht zu spät.
Noch gibt es Raum, noch ist Zeit.
Alles hängt nur davon ab, ob er nach links abbiegt.
Das ist der Weg, den er sowieso einschlagen wollte.
Er braucht nur nach links abzubiegen und zu tun, was getan werden muß.
Rote Rücklichter in der Dunkelheit. Signale im Regen. Das Auto wartet.
Joey fährt geradeaus auf der Bundesstraße weiter, vorbei an der Coal Valley Road, in Richtung Interstate.
Und auf der Interstate fallen ihm - obwohl immer noch der Teufel der Gefühllosigkeit in seinem Herz sitzt - unwillkürlich einige Bemerkungen ein, die P. J. gemacht hat, Bemerkungen, die jetzt einen tieferen Sinn bekommen. »Es ist so leicht, mich zu vernichten, Joey, aber noch leichter ist es, einfach zu glauben ...« So als wäre die Wahrheit keine objektive Größe, so als könnte alles, was jemand glauben möchte, die Wahrheit sein. Und: »Mach dir wegen der Fingerabdrücke keine Sorgen. Ich habe keine hinterlassen. Ich war sehr vorsichtig.« Vorsicht setzt ein absichtliches Handeln voraus. Ein zu Tode erschrockener, verwirrter, unschuldiger Mann wird nicht so rational handeln, wird nicht alle Spuren beseitigen, die ihn mit einem Verbrechen in Verbindung bringen könnten.
Hatte es überhaupt einen bärtigen Mann mit schmierigen Haaren gegeben - oder war das nur eine durch Charles Manson inspirierte Erfindung? Und wenn das Auto die Frau auf der Pine Ridge so heftig gerammt hatte, daß sie auf der Stelle tot gewesen war - warum war es dann völlig unbeschädigt?
Joey fährt immer schneller durch die Nacht; er braust dahin, so als könnte er auf diese Weise alle Fakten und die daraus resultierenden Folgerungen hinter sich lassen. Dann findet er das Glas, verliert die Kontrolle über seinen Mustang, rast gegen den Wegweiser .
. und stellt fest, daß er an der Leitplanke steht und auf ein Feld voller Unkraut und Gestrüpp starrt, ohne zu wissen, was er hier macht. Der Wind heult über die Interstate.
Graupeln peitschen sein Gesicht, seine Hände. Blut. Eine Schnittwunde an der rechten Schläfe.
Eine Kopfverletzung. Er berührt die Wunde, und ein greller Blitz durchzuckt seine Stirn, ein heißes Feuerwerk von Schmerz.
Eine Kopfverletzung, sogar eine kleine, kann alle möglichen Folgen haben, bis hin zum Gedächtnisschwund. Die Erinnerung kann ein Fluch sein und Glück verhindern. Hingegen kann Vergessen ein Segen sein und sogar mit der bewundernswertesten aller Tugenden verwechselt werden - mit dem Verzeihen.
Er kehrt zum Wagen zurück. Fährt ins nächste Krankenhaus, um die blutende Wunde nähen zu lassen.
Alles wird wieder gut werden.
Alles wird wieder gut werden.
Im College besucht er noch zwei Tage die Vorlesungen, aber er sieht plötzlich keinen Sinn mehr darin, auf den engen Wegen akademischer Bildung zu wandern. Er ist der geborene Autodidakt, und kein Lehrer könnte jemals so viel von ihm verlangen, wie er selbst sich abverlangt. Außerdem muß er, wenn er Schriftsteller werden will, Erfahrung in der realen Welt sammeln, um aus diesem Fundus schöpfen zu können, wenn er seine Kunstwerke zu Papier bringt. Die verdummende Atmosphäre der Hörsäle und die altmodischen Weisheiten der Lehrbücher werden die Entwicklung seines Talents nur behindern, werden seine natürliche Kreativität ersticken. Er muß etwas wagen, er muß die Akademie verlassen und sich in den turbulenten Strom des Lebens stürzen.
Er packt seine Sachen und kehrt dem College für immer den Rücken. Zwei Tage später verkauft er irgendwo in Ohio seinen Mustang einem Gebrauchtwagenhändler und trampt weiter nach Westen.
Zehn Tage, nachdem er das College verlassen hat, schreibt er seinen Eltern aus einer LKW-Raststätte in der Wüste von Utah eine Postkarte und erklärt ihnen seinen Entschluß, mit dem Sammeln von Erfahrungen zu beginnen, die er als Material für seine Schriftstellerei benötigt. Er schreibt ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen, er wisse genau, was er tue, und er werde mit ihnen in Kontakt bleiben. Alles wird gutgehen. Alles wird gutgehen.
Joey kniete noch immer neben der toten Frau in der Kirche. »Natürlich ist gar nichts gutgegangen.«
Der Regen, der aufs Dach trommelte, war ein trostloses Geräusch, eine Art Klagelied für die Ermordete.
»Ich bin von einem Ort zum anderen gezogen, von einem Job zum anderen. Habe den Kontakt zu allen abgebrochen. Habe sogar meinen Traum begraben, Schriftsteller zu werden. Ich war viel zu beschäftigt, um Träumen nachzuhängen. Viel zu beschäftigt mit dem Spiel der Amnesie. Ich traute mich nicht, Mom und Dad wiederzusehen - das Risiko wäre zu groß gewesen, dort zusammenzubrechen und die Wahrheit auszuplaudern.«
Celeste wandte sich von dem leeren Kirchenschiff ab, das sie beobachtet hatte, und trat an Joeys Seite. »Vielleicht bist du zu hart dir selbst gegenüber. Vielleicht war die Amnesie keine Selbsttäuschung. Die Kopfverletzung könnte wirklich einen Gedächtnisverlust bewirkt haben.«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Joey. »Aber die Wahrheit ist nun einmal objektiv, sie ist nicht das, was wir daraus machen möchten.«
»Zwei Dinge begreife ich nicht.«
»Nur zwei? Dann bist du mir weit voraus.«
»An jenem Abend, mit P. J. im Auto ...«
»Heute abend. Vor zwanzig Jahren ... aber zugleich auch heute.«
»Er hatte dich doch schon überzeugt, ihm zu glauben, oder jedenfalls, ihn nicht zu verraten. Und nachdem er dich dazu gebracht hatte, ihm aus der Hand zu fressen, erzählte er dir plötzlich, daß er das Mädchen gekannt hatte. Wozu diese Eröffnung, nachdem er doch ohnehin schon gewonnen hatte? Warum ging er das Risiko ein, dein Mißtrauen erneut zu wecken? Du hättest daraufhin deine Entscheidung rückgängig machen können.«
»Um das zu verstehen, muß man P. J. sehr gut kennen. Er liebte von jeher die Gefahr. Nicht daß er rücksichtslos gewesen wäre. Niemand fand sein Benehmen je beängstigend. Ganz im Gegenteil. Es trug zu seiner Anziehungskraft - eine wunderbar romantische Art von Waghalsigkeit - und die Leute bewunderten ihn dafür. Er liebte es, Risiken einzugehen. Auf dem Footballfeld wurde das besonders deutlich. Seine Manöver waren oft sehr kühn und ungewöhnlich - aber erfolgreich.«
»Ich erinnere mich daran, daß es hieß, er würde immer am Rand eines Fouls spielen.«
»Ja. Und er fuhr gern sehr schnell, wahnsinnig schnell, aber er konnte mit einem Auto so gut umgehen wie ein Rennfahrer, hatte nie einen Unfall, bekam nie einen Strafzettel. Beim Pokern wagte er sogar mit schlechten Karten hohe Einsätze -und gewann fast immer. Man kann gefährlich leben, sogar extrem gefährlich, und solange man gewinnt, solange die Risiken sich auszahlen, wird man von den Leuten bewundert.«
Celeste legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das erklärt wohl auch die zweite Sache, die ich nicht begreifen kann.«
»Das Glas im Handschuhfach«, vermutete er.
»Ja. Er muß es dort versteckt haben, während du deine Sachen gepackt hast.«
»Wahrscheinlich wollte er ihre Augen ursprünglich als Souvenir behalten. Doch dann fand er es wohl amüsant, sie in mein Auto zu legen, wo ich sie später finden würde. Ein Härtetest für unsere brüderlichen Bande.«
»Nachdem er dich von seiner Unschuld und von der Notwendigkeit, die Leiche verschwinden zu lassen, überzeugt hatte, war es doch glatter Wahnsinn, dich die Augen sehen zu lassen - geschweige denn, sie in deinem Auto zu deponieren.«
»Er konnte der Herausforderung, der Gefahr einfach nicht widerstehen. Ein Balanceakt am Rand der Katastrophe. Und du siehst ja - er hat es wieder geschafft. Er ist davongekommen. Ich habe ihn gewinnen lassen.«
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