»Du weißt also nicht, ob es wirklich passiert ist: zwölf Tote in dieser Kirche, nebeneinander in der ersten Bankreihe, bis auf das eine Opfer am Altar.«
»Wenn es tatsächlich geschehen ist, wenn hier zwölf Leichen entdeckt wurden, hat jedenfalls kein Mensch P. J. verdächtigt; denn in meiner Zukunft ist er immer noch ein freier Mann.«
»Mein Gott, Mom und Dad!« Sie löste sich abrupt von Joey und rannte den Mittelgang entlang.
Er stürzte ihr nach, durch die Vorhalle, durch die geöffneten Türen, in die Nacht hinaus.
Sie rutschte auf dem vereisten Weg aus, stürzte auf ein Knie, rappelte sich auf, hastete auf die Beifahrerseite des Mustang zu.
Als Joey die Fahrertür erreichte, hörte er ein dumpfes Grollen, das er zunächst für Donner hielt - doch dann bemerkte er, daß es von unten kam.
Celeste warf ihm über das Wagendach hinweg einen besorgten Blick zu. »Ein Stolleneinsturz.«
Das Rumpeln wurde lauter, die Straße erbebte, so als würde ein Güterzug durch einen Tunnel direkt unter ihnen donnern, und dann endete der Spuk wieder.
Irgendein brennender Grubenschacht war eingebrochen, aber Joey konnte nirgends einen Krater sehen.
»Wo?« fragte er.
»Offenbar in einem anderen Ortsteil. Komm, komm, beeil dich!« drängte sie ihn.
Als er den Motor anließ, befürchtete er, daß die Straße plötzlich aufbrechen und den Mustang in die Tiefe reißen könnte, daß sie ins Feuer stürzen würden.
»Ein so starkes Beben habe ich noch nie erlebt«, sagte Celeste. »Vielleicht ist doch ein Stollen direkt unter uns eingestürzt, aber so tief unter der Erde, daß die Oberfläche nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde.«
»Noch nicht.«
12
Obwohl der Mustang Winterreifen hatte, geriet er auf dem Weg zu Celestes Haus mehrmals ins Schleudern, doch Joey brachte die kurze Fahrt hinter sich, ohne irgend etwas zu rammen. Das Haus der Bakers war weiß, mit grünen Verzierungen und zwei Mansardenfenstern.
Joey und Celeste rannten über den Rasen zur Veranda, weil der Weg viel glatter als das gefrorene Gras war.
Im Erdgeschoß brannte überall Licht, das einladend durch die teilweise vereisten Fenster schimmerte. Auch die Verandalampe war eingeschaltet.
Eigentlich hätten sie vorsichtig sein müssen, denn P. J. konnte ihnen ja zuvorgekommen sein. Sie wußten nicht, welche der drei Familien er zuerst heimsuchen wollte.
Doch Celeste hatte panische Angst um ihre Eltern, schloß mit zitternder Hand die Haustür auf und stürzte ohne alle Vorsichtsmaßnahmen in den kurzen Flur. »Mom! Daddy! Wo seid ihr? Mom?«
Niemand antwortete.
Joey wußte, daß es sinnlos wäre, Celeste zurückhalten zu wollen, und deshalb folgte er ihr dicht auf den Fersen und schwang den Wagenheber, sobald er irgendwo einen Schatten oder eine eingebildete Bewegung sah. Sie riß eine Tür nach der anderen auf und schrie in wachsendem Entsetzen nach ihren Eltern. Vier Räume unten, vier oben. Bad und Toilette. Das Haus war alles andere als eine Villa, aber es war viel schöner als alle Häuser, die Joey jemals gesehen hatte, und überall waren Bücher.
Zuletzt warf Celeste einen Blick in ihr eigenes Zimmer, aber auch dort war niemand. »Er hat sie schon umgebracht!«
»Nein, das glaube ich nicht. Im ganzen Haus deutet nichts auf einen Kampf hin. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihn freiwillig irgendwohin begleitet hätten, nicht bei diesem Wetter.«
»Aber wo sind sie dann?«
»Hätten sie dir eine Nachricht hinterlassen, wenn sie unerwartet ausgegangen wären?«
Ohne zu antworten, wirbelte sie auf dem Absatz herum, rannte auf den Korridor und nahm auf der Treppe ins Erdgeschoß zwei Stufen auf einmal.
Joey holte sie in der Küche ein, wo sie einen Zettel las, der an eine Pinnwand neben dem Kühlschrank geheftet war.
Celeste,
Bev ist heute Vormittag nach der Messe nicht nach Hause gekommen. Niemand weiß, wo sie ist. Die Polizei sucht nach ihr. Wir fahren nach Asherville, um bei Phil und Sylvie zu sein, die sich natürlich wahnsinnige Sorgen machen. Ich bin sicher, daß alles ein gutes Ende nehmen wird. Jedenfalls werden wir vor Mitternacht nach Hause kommen. Hoffentlich hast du bei Linda einen netten Nachmittag verbracht. Schließ die Türen ab. Mach dir keine Sorgen. Bev wird wieder auftauchen. Gott wird nicht zulassen, daß ihr etwas passiert.
Gruß, Mom.
Celeste warf einen Blick auf die Wanduhr - es war erst 21.02 Uhr. »Gott sei Dank, er kann nicht Hand an sie legen!«
»Hand!« Dabei fiel Joey etwas wieder ein. »Zeig mir deine Hände.«
Sie streckte sie ihm entgegen.
Die erschreckenden Stigmata in ihren Handflächen waren zu hellen Flecken verblaßt.
»Offenbar treffen wir die richtigen Entscheidungen«, seufzte er erleichtert. »Wir verändern das Schicksal -jedenfalls deines. Wir müssen nur weiterhin in Aktion bleiben.«
Als er von ihren Händen zu ihrem Gesicht aufblickte, sah er, daß sie etwas hinter seiner Schulter anstarrte. Mit rasendem Herzklopfen drehte er sich um und schwang den Wagenheber.
»Nein«, beruhigte Celeste ihn. »Mir ist nur das Telefon ins Auge gefallen.« Sie ging darauf zu. »Wir können Hilfe herbeirufen. Die Polizeistation! Wir sagen Bescheid, wo sie Bev finden können und daß sie P. J. suchen sollen.«
Das Telefon hatte eine altmodische runde Wählscheibe. So ein Modell hatte Joey lange nicht mehr gesehen, und seltsamerweise überzeugte es ihn mehr als alles andere davon, daß er tatsächlich zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden war.
Celeste wählte und drückte sodann mehrmals auf die Gabel. »Kein Zeichen.«
»Bei diesem Sturm und Eis könnte die Verbindung gestört sein.«
»Nein. Es ist P. J. Er hat die Leitungen durchtrennt.«
Joey wußte, daß sie recht hatte.
Sie legte den Hörer auf und eilte aus der Küche hinaus. »Komm mit - hier gibt es bessere Waffen als den Wagenheber.«
Im Arbeitszimmer ihres Vaters ging sie zum Eichenschreibtisch und holte den Schlüssel für den Waffenschrank aus der mittleren Schublade.
Bücherregale an zwei Wänden. Joey strich mit der Hand über die verschiedenfarbenen Buchrücken. »Heute abend habe ich endlich begriffen, daß P. J. mir meine Zukunft geraubt hat, als er mich überredete, ihn davonkommen zu lassen . einen Mörder davonkommen zu lassen!«
Celeste öffnete die Glastür des Gewehrschranks. »Was meinst du damit?«
»Ich wollte Schriftsteller werden. Das war von jeher mein einziger Berufswunsch. Ein Schriftsteller - sofern er etwas taugt - versucht immer, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und wie hätte ich hoffen können, als Autor wahrhaftig zu sein, wenn ich nicht einmal die Wahrheit über meinen Bruder verkraften konnte? Er raubte mir meinen Weg, meine Zukunft, und dann wurde er ein Schriftsteller.«
Celeste holte eine Schrotflinte aus dem Schrank und legte sie auf den Schreibtisch. »Eine Remington, eine wirklich gute Waffe. Aber erklär mir eines: Wie konnte er Schriftsteller werden, wenn dieser Beruf Wahrhaftigkeit verlangt? P. J. besteht doch nur aus Lug und Trug. Ist er denn ein guter Schriftsteller?«
»Alle rühmen ihn.«
Sie holte eine zweite Schrotflinte aus dem Schrank und legte sie neben die andere. »Auch eine Remington. Mein Dad hat eine Vorliebe für diese Firma. Schönes Walnußholz, stimmt’s? Ich habe dich nicht gefragt, was alle anderen von ihm halten. Was glaubst du? Taugt er etwas als Schriftsteller - in dieser Zukunft, die du schon kennst?«
»Er ist erfolgreich.«
»Na und? Das bedeutet noch lange nicht, daß er gut ist.«
»Er hat eine Menge Preise gewonnen, und ich habe immer so getan, als hielte ich ihn für einen guten Schriftsteller. Aber ... aber in Wirklichkeit hatte ich nie diesen Eindruck.«
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