»Er benimmt sich so, als glaubte er, ein Auserwählter zu sein.«
»Vielleicht ist er es.«
»Auserwählt von welchem Gott?«
»Gott hat damit nichts zu tun.«
Celeste betrat den Altarsockel, verstaute Schraubenzieher und Taschenlampe in ihrer Manteltasche, kniete auf der anderen Seite der Toten nieder und blickte ihn über die Leiche hinweg an. »Wir müssen uns ihr Gesicht anschauen.«
Joey schnitt eine Grimasse. »Wozu?«
»P. J. hat dir ihren Namen nicht verraten, aber er hat gesagt, sie sei aus Coal Valley. Wahrscheinlich kenne ich sie.«
»Dann wäre der Anblick für dich um so schlimmer.«
»Wir haben keine andere Wahl«, beharrte Celeste. »Wenn wir wissen, wer sie ist, liefert uns das vielleicht einen Anhaltspunkt, was er jetzt im Schilde führt, wo er sich jetzt aufhält.«
Sie mußten den Leichnam auf die Seite rollen, um ein loses Ende der Plastikhülle zu finden. Dann legten sie die Tote wieder auf den Rücken.
Blutverklebtes blondes Haar verhüllte gnädig das verstümmelte Gesicht.
Celeste schob die Haare mit einer Zärtlichkeit beiseite, die Joey zutiefst bewegte. Gleichzeitig bekreuzigte sie sich und sagte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Joey hob den Kopf und starrte zur Decke empor, nicht weil er hoffte, dort die Heilige Dreifaltigkeit zu erblicken, die Celeste gerade angerufen hatte, sondern weil er es nicht ertragen konnte, die leeren Augenhöhlen zu sehen.
»Sie hat einen Knebel im Mund«, berichtete Celeste. »Eines von den Dingern, mit denen man Autos wäscht - Polierleder. Ich glaube . ja, ihre Knöchel sind mit Draht gefesselt. Sie ist nicht vor einem wahnsinnigen Bärtigen davongerannt.«
Joey erschauderte.
»Ihr Name ist Beverly Korehak«, fuhr Celeste fort. »Sie war ein paar Jahre älter als ich. Ein nettes Mädchen. Freundlich. Sie hat noch bei ihren Eltern gewohnt, aber letzten Monat haben sie ihr Haus der Regierung verkauft und sind nach Asherville gezogen. Beverly hat dort als Sekretärin bei den Elektrizitätswerken gearbeitet. Ihre Eltern sind mit meinen befreundet. Sie kennen einander seit einer Ewigkeit. Das wird sehr schlimm für Phil und Sylvie Korshak sein.«
Joey starrte immer noch an die Decke. »P. J. muß sie heute in Asherville gesehen haben. Er hat angehalten, um mit ihr zu plaudern. Sie ist bestimmt ohne Bedenken zu ihm ins Auto gestiegen. Schließlich war er ja kein Fremder. Jedenfalls glaubte sie ihn zu kennen.«
»Decken wir sie wieder zu«, sagte Celeste.
»Mach du das.«
Ihm graute im Grunde nicht vor dem augenlosen Gesicht. Vielmehr befürchtete er, daß er wie durch Hexerei ihre blauen Augen noch unversehrt in den Höhlen sehen könnte, mit jenem Ausdruck, den sie in den letzten Momenten ihres grausamen Todes gehabt haben mußten, als sie versuchte, trotz des Knebels um Hilfe zu schreien und wußte, daß niemand sie retten konnte.
Das Plastik raschelte.
»Du bist wirklich erstaunlich«, sagte Joey.
»Inwiefern?«
»Deine Kraft.«
»Ich bin doch hier, um dir zu helfen.«
»Ich dachte, ich wäre hier, um dir zu helfen.«
»Vielleicht müssen wir uns gegenseitig helfen.«
Das Rascheln hörte auf.
»Okay«, versicherte Celeste ihm.
Er senkte den Kopf und sah etwas, das er im ersten Moment für Blut auf dem Altarsockel hielt. Es mußte zum Vorschein gekommen sein, als sie die Position der Leiche verändert hatten.
Bei genauerem Hinsehen stellte er jedoch fest, daß es kein Blut, sondern Sprühfarbe war: die Ziffer »1« in einem Kreis.
»Siehst du das?« fragte er Celeste, die gerade aufstand.
»Ja. Es muß etwas mit dem geplanten Abriß zu tun haben.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, bestimmt. Oder vielleicht haben Kinder hier gespielt. Drüben ist noch mehr davon.« Sie deutete in Richtung Kirchenschiff.
Joey stand auf, drehte sich um und starrte mit gerunzelter Stirn in die schwach beleuchtete Kirche. »Wo?«
»In der ersten Bankreihe.«
Die rote Farbe war aus dieser Entfernung auf dem dunklen Holz kaum zu sehen.
Joey nahm den Wagenheber wieder zur Hand und ging auf das Altargitter zu. Celeste folgte ihm.
Links vom Mittelgang waren auf die vorderste Bank eingekreiste Ziffern gesprüht worden, in einem Abstand, der dem von nebeneinander sitzenden Personen entsprach. Ganz links war eine »2«, und die letzte Ziffer am Mittelgang war eine »6«.
Joey hatte das Gefühl, als würden ihm Spinnen über den Nacken laufen, aber seine Hand fand keine einzige.
Auf der Bank rechts vom Mittelgang setzte sich die Zahlenreihe fort - 7, 8, 9, 10, 11, 12.
»Zwölf«, murmelte er.
»Was hast du?« fragte Celeste, die neben ihn getreten war.
»Die Frau auf dem Altar .«
»Beverly.«
Er starrte die roten Ziffern auf den Bänken an, und sie kamen ihm jetzt so leuchtend vor, als wären es Zeichen der Apokalypse.
»Joey, was ist mit Beverly? Was hast du?«
Joey stand schon im Schatten der Wahrheit, konnte ihre ganze eisige Struktur aber noch nicht erkennen. »Er hat die >1< gesprüht und dann die Leiche darauf gelegt.«
»P. J.?«
»Ja.«
»Wozu?«
Ein heftiger Windstoß fegte durch das Kirchenschiff. Der schwache Weihrauchduft und der stärkere Schimmelgeruch wurden von Schwefelgestank überlagert.
»Hast du Geschwister?« fragte Joey.
Sie schüttelte den Kopf, verwirrt über diese Frage. »Nein.«
»Lebt noch jemand bei euch, vielleicht deine Großeltern?«
»Nein, wir sind nur zu dritt.«
»Beverly ist eine von zwölf.«
»Zwölf was?«
Er deutete auf Celeste. Seine Hände zitterten. »Du und deine Familie - eins, zwei, drei. Wer wohnt sonst noch in Coal Valley?«
»Die Dolans.«
»Wie viele Personen?«
»Fünf.«
»Und wer noch?«
»John und Beth Bimmer. Johns Mutter Hannah lebt bei ihnen.«
»Also drei. Drei Bimmers, fünf Dolans und deine Familie. Elf. Plus Beverly auf dem Altar.« Er deutete auf die Ziffern an den Bänken. »Zwölf!«
»O Gott!«
»Ich begreife jetzt, was er im Schilde führt. Warum die Zahl zwölf es ihm angetan hat, liegt für mich auf der Hand. Zwölf Apostel, alle tot und in einer ehemaligen Kirche aufgereiht. Und sie alle verehren nicht Gott, sondern den dreizehnten Apostel. Ich glaube, so sieht P. J. sich - als den dreizehnten Apostel, Judas, den Verräter.«
Er berührte eine der aufgesprühten Ziffern. Stellenweise war die Farbe noch ein wenig feucht.
»Ein Judas. Er verrät seine Familie, er verrät den Glauben, in dem er erzogen wurde, er hat vor nichts Ehrfurcht, er kennt keine Treue. Er fürchtet niemanden, nicht einmal Gott. Er wählt den allergefährlichsten Weg, geht das größtmögliche Risiko ein, um den absoluten Nervenkitzel zu erleben: Er setzt seine Seele aufs Spiel für - für einen Tanz über dem Abgrund der Verdammnis.«
Celeste schmiegte sich an Joey, weil der Körperkontakt etwas Tröstliches hatte. »Du meinst, er inszeniert ein symbolisches Szenarium?«
»Ja - mit Leichen«, sagte Joey. »Er hat die Absicht, in dieser Nacht alle umzubringen, die noch in Coal Valley wohnen, und ihre Leichen will er hier arrangieren.«
Sie erbleichte. »Ist das wirklich geschehen?«
Er verstand nicht, was sie meinte. »Geschehen?«
»In der Zukunft, die du ja schon einmal durchlebt hast -wurden da alle Menschen in Coal Valley umgebracht?«
Joey mußte sich schockiert eingestehen, daß er ihre Frage nicht beantworten konnte.
»Nach jener Nacht habe ich aufgehört, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, habe mir keine Nachrichtensendungen im Fernsehen angeschaut und im Radio einen neuen Sender gesucht, sobald Nachrichten kamen. Ich redete mir ein, ich hätte einfach genug von all den Katastrophenmeldungen, von Flugzeugabstürzen, Überschwemmungen, Feuern und Erdbeben. Aber in Wirklichkeit ... in Wirklichkeit wollte ich wohl nur nichts über ermordete Frauen lesen oder hören. Ich wollte nicht riskieren, daß irgendwelche Einzelheiten eines Verbrechens - etwa ausgestochene Augen - eine Assoziation auslösen und dadurch meine angebliche Amnesie hinwegfegen.«
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