Joey bringt kein Wort hervor.
»Es ist so leicht, sie und mich zu vernichten, Joey. Aber noch leichter ist es, das Richtige zu tun - einfach zu glauben und zu vertrauen.«
Druck. Enormer Druck. Joey kommt sich wie ein Tiefseetaucher vor. Auf jedem Quadratzentimeter seines Körpers lasten Tausende von Pfund. Zermalmen ihn.
Als er endlich seine Stimme wiederfindet, klingt sie sehr jung und erschreckend unsicher. »Ich weiß nicht, P. J. Ich weiß nicht.«
»Du hältst mein Leben in deinen Händen, Joey.«
»Ich bin völlig durcheinander.«
»Du hältst auch das Leben unserer Eltern in deinen Händen.«
»Aber sie ist tot! Ein Mädchen ist tot!«
»Das stimmt. Sie ist tot. Und wir leben.«
»Aber ... aber was willst du mit der Leiche machen?«
Als Joey sich diese Frage stellen hört, weiß er, daß P. J. gewonnen hat. Er fühlt sich plötzlich so schwach, als wäre er wieder ein kleines Kind, und er schämt sich seiner Schwäche. Heftige Gewissensbisse nagen an ihm, schmerzhaft wie eine Säure, und um diesem unerträglichen Schmerz zu entkommen, muß er seinen Geist teilweise lahmlegen, muß sämtliche Emotionen ausschalten. Ein grauer Ascheregen begräbt seine Seele.
»Das ist ganz einfach«, sagt P. J. »Ich könnte die Leiche irgendwo abladen, wo sie nie gefunden wird.«
»Das darfst du ihrer Familie nicht antun. Die Angehörigen dürfen sich nicht ihr Leben lang fragen, was aus ihrer Tochter oder Schwester geworden ist, ob sie immer noch irgendwo leidet. Damit würdest du ihnen sogar die Hoffnung auf einen resignierten Frieden rauben.«
»Du hast recht. Ich bin offenbar immer noch ziemlich durcheinander. Natürlich muß ich sie irgendwo deponieren, wo sie gefunden wird.«
Eine immer dickere Schicht grauer Asche betäubt Joey in zunehmendem Maße. Von Minute zu Minute fühlt er weniger, denkt er weniger. Diese seltsame Entrücktheit ist zwar ein bißchen unheimlich, aber sie ist auch segensreich, und er kämpft deshalb nicht gegen sie an.
Er ist sich bewußt, daß seine Stimme sich gänzlich tonlos anhört, als er sagt: »Aber dann könnte die Polizei deine Fingerabdrücke auf dem Plastik finden. Oder irgend etwas anderes, vielleicht ein paar Haare von dir .«
»Mach dir deine Sorgen wegen der Fingerabdrücke. Ich habe keine hinterlassen, auch keine anderen Spuren. Ich war sehr vorsichtig. Nur .«
Joey wartet resigniert darauf, daß sein Bruder - sein einziger heißgeliebter Bruder - den Satz beendet, denn er spürt, daß das der schlimmste Schlag sein wird, von der Entdeckung der Leiche im Kofferraum einmal abgesehen.
»Nur ... ich habe sie gekannt.«
»Was? Du hast sie gekannt?«
»Ich bin ein paarmal mit ihr ausgegangen.«
»Wann?« fragt Joey dumpf, aber es ist ihm schon fast egal. Bald wird die graue Asche auch die letzten scharfen Kanten seiner Neugier und seines Gewissens überdeckt haben.
»An der High School, vor einer Ewigkeit.«
»Wie heißt sie?«
»Du kennst sie nicht. Ein Mädchen aus Coal Valley.«
Der Regen scheint nicht enden zu wollen, und Joey zweifelt nicht daran, daß auch die Nacht nie enden wird.
»Ich bin nur zweimal mit ihr ausgegangen, und wir haben nicht miteinander geschlafen. Aber jetzt verstehst du mich vielleicht besser, Joey. Wenn ich ihre Leiche zur Polizei bringe, wird man herausfinden, daß ich sie gekannt habe - und das wird man dann gegen mich verwenden. Um so schwerer wird es für mich sein, meine Unschuld zu beweisen, und um so schlimmer wird alles für Mom und Dad werden - für uns alle. Ich stecke in einer verdammten Zwickmühle.«
»Ja.«
Du verstehst, was ich meine?«
»Ja.«
Du begreifst meine Lage?«
»Ja.«
»Ich liebe dich, kleiner Bruder.«
»Ich weiß.«
»Ich war mir sicher, daß du für mich Dasein würdest, wenn es wirklich darauf ankommt.«
»In Ordnung.«
Tiefes eintöniges Grau.
Beruhigendes Grau.
»Du und ich, Joey! Nichts und niemand auf der Welt ist stärker als du und ich, wenn wir nur zusammenhalten. Wir sind Brüder, und dieses Band ist stärker und unverbrüchlicher als Stahl. Stärker als alles andere. Für mich ist das überhaupt das Allerwichtigste von der ganzen Welt - unsere enge Beziehung. Zwei Brüder - das ist etwas Wunderbares!«
Sie sitzen eine Weile schweigend da.
Jenseits der nassen Fenster ist die Dunkelheit schwärzer als jemals zuvor, so als wären die höchsten Berggipfel miteinander verschmolzen, so als würde nie wieder ein Streifen Himmel mit Sternen zu sehen sein, so als müßten Mom und Dad nun für immer in einem Steingewölbe ohne Fenster und Türen leben.
»Du mußt dich bald auf den Weg ins College machen«, sagte P. J. »Du hast eine weite Fahrt vor dir.«
»Ja.«
»Undich auch.«
Joey nickt.
»Du mußt mich in New York besuchen.«
Joey nickt.
»Wir werden uns ein bißchen amüsieren.«
»Ja.«
»Hier, das möchte ich dir geben«, sagt P. J. und versucht, Joey etwas in die Hand zu drücken.
»Was denn?«
»Ein bißchen zusätzliches Taschengeld.«
»Ich will es nicht haben.« Joey ballt seine Hand zur Faust.
P. J. drückt ihm trotzdem mehrere Geldscheine zwischen die Finger. »Ich möchte es dir aber geben. Ich weiß doch, daß man im College ein paar Extradollar immer gut gebrauchen kann.«
Joey schüttelt das Geld ab.
P. J. gibt nicht auf, versucht das Geld in Joeys Tasche zu stecken. »Na komm, es sind doch nur dreißig Dollar, kein Vermögen, nur eine Kleinigkeit. Laß mir doch den Spaß, den reichen Mann zu spielen. Es ist ein tolles Gefühl, und ich habe so selten die Gelegenheit, etwas für dich zu tun.«
Widerstand ist so schwierig und scheint so sinnlos - nur dreißig Dollar, eine unbedeutende Summe -, daß Joey sich das Geld in die Tasche schieben läßt. Er ist viel zu erschöpft, um sich zu wehren.
P. J. klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Du solltest jetzt packen und losfahren.«
Sie gehen ins Haus.
Ihre Eltern sind neugierig.
»He, warum steht ihr zwei Blödhammel denn ewig im Regen herum?« fragt Dad.
P. J. legt einen Arm um Joeys Schultern. »Ach, das war nur ein Plausch zwischen großem und kleinem Bruder. Über den Sinn des Lebens und all das.«
»Na klar - dunkle Geheimnisse!« scherzt Mom lächelnd.
Joey liebt sie in diesem Moment so sehr, daß die Kraft dieser Liebe ihn fast in die Knie zwingt.
Verzweifelt zieht er sich in das Schneckenhaus aus ewigem Grau zurück, wo alle Schmerzen betäubt werden.
Er packt hastig und fährt einige Minuten vor P. J. ab. Alle umarmen ihn zum Abschied; die Umarmung seines Bruders ist besonders herzlich, besonders innig.
Einige Kilometer außerhalb von Asherville fallt Joey ein Auto auf, das hinter ihm auf der Bundesstraße rasch näher kommt. An der großen Kreuzung überholt es ihn plötzlich und biegt mit hoher Geschwindigkeit in die Coal Valley Road ab.
Schmutzige Wasserfontänen bespritzen Joeys Mustang, doch als die Windschutzscheibe wieder klar ist, sieht er, daß der andere Wagen auf dem Highway stehengeblieben ist.
Er weiß, daß es P. J. ist.
P. J. wartet.
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