»Du hast vorhin gesagt, sie wäre nicht nur eine Halluzination gewesen, nicht nur das Phantasiegespinst eines Alkoholikers.«
»Ja, davon bin ich überzeugt. Es ist eine Erinnerung. Irgendwann und irgendwie habe ich sie gesehen.« Er preßte eine Hand so fest gegen seine Stirn, als könnte er das vergessene Wissen aus seinem Schädel herausdrücken.
»Wer könnte das Glas denn in deinem Wagen versteckt haben?« fragte Celeste.
»Ich weiß es nicht.«
»Wo warst du an jenem Abend, bevor du ins College zurückgefahren bist?«
»Zuhause. In Asherville. Und während der Fahrt habe ich nirgends angehalten.«
»Stand der Mustang in eurer Garage?«
»Wir haben gar keine.«
»War der Wagen abgeschlossen?«
»Nein.«
»Dann hätte doch jeder das Glas dort hineinlegen können.«
»Ja, möglicherweise.«
Niemand war aus dem Haus gekommen, dessen Veranda sie um ein Haar gerammt hätten: Es hatte als eines der ersten Häuser in Coal Valley geräumt werden müssen und stand nun schon seit Monaten leer. Auf die weiße Aluminiumverkleidung hatte jemand eine große »4« gesprüht und mit einem Kreis umgeben. Die Ziffer, die im Scheinwerferlicht des Mustangs blutrot leuchtete, war kein Graffiti, sondern eine offizielle Markierung, die bedeutete, daß dieses Haus als viertes abgerissen werden würde, sobald die letzten Einwohner von Coal Valley ausgezogen waren und die Bulldozer anrückten.
Mit der Entscheidung, was mit dem Grubenfeuer geschehen sollte, hatten die staatlichen Institutionen sich so viel Zeit gelassen, bis es das ganze Tal unterhöhlt hatte und nicht mehr gelöscht werden konnte, doch die Zerstörung des Dorfes sollte jetzt so ordentlich und rasch wie eine Militäroperation vonstatten gehen.
»Wir dürfen hier nicht länger herumsitzen«, sagte er, überzeugt davon, daß die Wundmale in Celestes Händen durch dieses Verweilen an einem Ort wieder schlimmer geworden waren. Er verzichtete darauf, sie zu betrachten, legte den Rückwärtsgang ein und durchquerte den Rasen, wobei er befürchtete, daß sie in der aufgeweichten Erde steckenbleiben könnten. Zum Glück erreichten sie die Straße jedoch problemlos.
»Und wohin jetzt?« fragte Celeste.
»Wir sehen uns ein wenig in der Stadt um.«
»Und wonach halten wir Ausschau?«
»Nach etwas Ungewöhnlichem.«
»Hier ist jetzt alles ungewöhnlich.«
»Wir werden es erkennen, wenn wir es sehen.«
Er fuhr langsam die Coal Valley Road entlang, die zugleich die Hauptstraße des Ortes war.
An der ersten Kreuzung deutete Celeste auf eine schmale Straße zur Linken. »Dort drüben ist unser Haus.«
Obwohl Regenschleier und einige große Tannen die Sicht behinderten, konnte Joey doch einen Block entfernt mehrere Fenster erkennen, die hell erleuchtet waren. Kein anderes Haus in dieser Richtung schien bewohnt zu sein.
»Alle Nachbarn sind schon ausgezogen«, bestätigte Celeste. »Mom und Dad sind jetzt ganz allein.«
»Gerade dadurch könnten sie sicher sein«, brachte er ihr in Erinnerung und fuhr langsam an dem Sträßchen vorbei.
Obwohl die Coal Valley Road auch in andere Ortschaften führte, war ihnen während der ganzen Fahrt kein einziges Auto entgegengekommen, und das würde wahrscheinlich auch so bleiben. Zahlreiche Experten hatten der Öffentlichkeit zwar versichert, daß der Highway völlig sicher sei, daß keinerlei Gefahr eines plötzlichen Einbruchs ins Inferno bestünde. Trotzdem sollte die Straße nach der Zerstörung von Coal Valley geschlossen werden, und die Bewohner der umliegenden Bergdörfer und -städte waren schon seit langer Zeit sehr skeptisch in bezug auf alles, was die Experten von sich gaben, und fuhren deshalb lieber andere Strecken.
Auf der linken Straßenseite kam jetzt St. Thomas in Sicht, die katholische Kirche, in der bis vor kurzem jeden Samstag und Sonntag Gottesdienste stattgefunden hatten. Die Priester der Pfarrei »Unsere schmerzensreiche Mutter« in Asherville hatten diese Gemeinde - ebenso wie zwei andere kleine Ortschaften - betreut. Es war kein prächtiges Gotteshaus, sondern ein schlichter Holzbau, sogar ohne Buntglasfenster.
Flackerndes Licht in den Kirchenfenstern erregte Joeys Aufmerksamkeit. Eine Taschenlampe. Jedesmal, wenn der Strahl bewegt wurde, sprangen Schatten umher wie gepeinigte Geister.
Er parkte direkt vor der Kirche, schaltete die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab.
Die zweiflügelige Tür über den Betonstufen war weit geöffnet.
»Das ist eine Einladung«, sagte Joey.
»Glaubst du, daß er in der Kirche ist?«
»Darauf könnte ich jede Wette eingehen.«
In der Kirche erlosch das Licht.
»Bleib hier«, sagte Joey, während er die Wagentür öffnete.
»Den Teufel werde ich tun.«
»Bitte!«
»Nein«, sagte sie hart.
»Dort drin könnte alles mögliche passieren.«
»Hier draußen auch.«
Womit sie natürlich völlig recht hatte.
Als Joey ausstieg und nach hinten zum Kofferraum ging, folgte Celeste ihm. Sie hatte die Kapuze wieder über den Kopf gezogen.
Der Regen war jetzt mit Graupel vermischt, wie in jener Nacht vor zwanzig Jahren, als er den Unfall auf der Interstate gehabt hatte. Die kleinen Hagelkörner hörten sich auf dem Metall so an, als würden Krallen gewetzt.
Als er den Kofferraum öffnete, rechnete er halb damit, dort die tote Blondine zu finden.
Sie war nicht da.
Er holte den Wagenheber heraus. Das Ding war beruhigend schwer.
Im schwachen Kofferraumlicht sah Celeste den Werkzeugkasten, öffnete ihn und griff nach einem großen Schraubenzieher.
»Das ist zwar kein Messer«, sagte sie, »aber immerhin besser als gar nichts.«
Joey wünschte, sie würde im Auto bleiben und die Türen verschließen. Wenn Gefahr drohte, könnte sie laut hupen, und dann wäre er innerhalb von Sekunden bei ihr.
Doch obwohl er sie erst seit einer knappen Stunde kannte, wußte er genau, daß es sinnlos wäre, sie davon abhalten zu wollen, ihn zu begleiten. Trotz ihrer zarten Schönheit war sie ungemein zäh und stur. Und die Erkenntnis, daß ihr Vergewaltigung und Ermordung beschieden sein könnten, hatte ihr auch die letzten Spuren jugendlicher Unsicherheit genommen - diese Erkenntnis und die Augen im Glas. Die Welt hatte sich in einen viel düstereren und grausameren Ort verwandelt, als sie noch am Morgen für möglich gehalten hätte, aber sie stellte sich dem mit erstaunlicher, bewundernswerter Tapferkeit.
Joey gab sich keine Mühe, den Kofferraum leise zu schließen. Die offenen Kirchentüren verrieten nur allzu deutlich, daß der Mann, der ihn auf die Coal Valley Road geführt hatte, damit rechnete, daß er ihm auch in die Kirche folgen würde.
»Bleib dicht neben mir«, sagte er.
Sie nickte grimmig. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Im Hof von St. Thomas ragte ein Lüftungsrohr von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser gut zwei Meter in die Höhe, umgeben von einem Stacheldrahtzaun als Schutzbarriere. Rauchwolken stiegen daraus empor, verursacht von dem unterirdischen Feuer. Diese Maßnahme hatte verhindern sollen, daß die Konzentration giftiger Dämpfe in der Kirche und in den umliegenden Häusern zu hoch wurde. In den letzten zwanzig Jahren waren fast zweitausend solcher Belüftungsschächte angelegt worden.
Trotz des unablässigen Regens stank die Luft in der Umgebung von St. Thomas nach Schwefel.
Auf die Kirchenfassade war mit roter Farbe eine große »13« gesprüht.
Seltsamerweise mußte Joey an Judas denken, an den dreizehnten Apostel, der Jesus verraten hatte.
Die Ziffer an der Wand bedeutete nur, daß die Kirche als dreizehntes Gebäude zerstört werden würde, aber Joey wurde das Gefühl nicht los, als hätte diese Ziffer auch noch eine andere - tiefere - Bedeutung. Tief im Herzen ahnte er, daß es eine Warnung war, vor Verrat auf der Hut zu sein. Aber Verrat von welcher Seite?
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