Celeste hörte aufmerksam zu und glaubte ihm, weil sie ein Zeichen erhalten hatte, das ihr bewies, daß es auf der Welt Dimensionen gab, die man nicht sehen und berühren konnte.
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Aus dem Autoradio ertönte »One of these Nights« von den Eagles, »Pick Up the Pieces« von der Average White Band, »When Will I Be Loved« von Ronstadt, »Rosalita« von Springsteen, »Black Water« von den Doobie Brothers - alles brandneue Lieder, die großen Hits des Tages, obwohl Joey diese Songs an anderen Orten und in anderen Radios während der letzten zwanzig Jahre unzählige Male gehört hatte.
Als er bei dem Bericht über seine merkwürdigen Erlebnisse an den Punkt gelangte, wo er Celeste neben ihrem liegengebliebenen Valiant gesehen hatte, waren sie nicht mehr weit von Coal Valley entfernt: Der Ort lag vor ihnen in einem tiefen Tal. Joey hielt oben auf dem Hügel am Straßenrand an, neben mehreren großen Berglorbeerbäumen, obwohl er wußte, daß sie nicht lange stehenbleiben durften, weil sie andernfalls riskierten, daß ihrer beider Schicksal sich doch noch erfüllte -Celestes Ermordung und seine Rückkehr in die Hölle eines sinnlosen Lebens.
Coal Valley war eher ein Dorf als ein Städtchen. Sogar bevor das unersättliche Grubenfeuer ein Labyrinth von Tunnels in die Erde unter dem Ort gefressen hatte, hatten hier nicht einmal 500 Menschen gelebt.
Einfache Holzhäuser mit Schindeldächern. Gärten mit Pfingstrosen und üppigen Heidelbeerbüschen, die im Winter unter einer tiefen Schneedecke verborgen waren. Hartriegelbäume, die im Frühling mit weißen, rosafarbenen und roten Blüten übersät waren. Eine kleine Filiale der County First National Bank. Eine Mannschaft der freiwilligen Feuerwehr, die über einen einzigen Löschwagen verfügte. Polanskis Taverne, wo selten etwas anderes als Bier oder Bier zusammen mit einem Gläschen Whisky verlangt wurde, und wo riesige Behälter mit eingelegten Eiern und heißen Würsten in würziger Brühe auf der Theke standen. Ein Supermarkt, eine Tankstelle, eine kleine Grundschule.
Für eine Straßenbeleuchtung war der Ort nicht groß genug, doch bevor die Regierung endlich mit der Umsiedlung begonnen hatte, war Coal Valley in seinem gemütlichen Nest zwischen den Hügeln nachts ein einladender heller Fleck gewesen, weil die Lampen in den Häusern und Geschäften ein warmes Licht verbreiteten. Doch jetzt waren alle öffentlichen Gebäude geschlossen und dunkel. Die Glaubensleuchte im Glockenturm war erloschen. Nur in drei Häusern brannte noch Licht, und auch dort würde es demnächst für immer ausgehen, wenn die letzten Einwohner noch vor Thanksgiving ihre Heimat verlassen mußten.
Am Dorfrand war ein heller orangefarbener Schein zu sehen: Hier hatte sich das Feuer in einem Stollen bis dicht unter die Erdoberfläche gefressen, und eine Grube war plötzlich aufgebrochen. Seitdem war das unterirdische Inferno an dieser Stelle den Blicken zugänglich, während es ansonsten unter den unbewohnten Häusern und rissigen Straßen verborgen blieb.
»Ist er dort unten?« fragte Celeste, so als könnte Joey die Nähe ihres unbekannten Feindes hellseherisch wahrnehmen.
Die Visionen, die er gehabt hatte, ließen sich jedoch nicht bewußt herbeiführen, und sie waren außerdem viel zu rätselhaft, als daß sie ihm den Weg zum Versteck des Mörders hätten weisen können. Zudem vermutete er, daß ihm zwar diese zweite Chance geboten wurde, sich zu bewähren und das Richtige zu tun, daß er dabei aber seine eigene Weisheit, sein Urteilsvermögen und seinen Mut unter Beweis stellen mußte. Coal Valley war sozusagen sein Testgelände. Kein Schutzengel würde ihm Anweisungen ins Ohr flüstern oder zwischen ihn und ein scharfes Messer treten, das plötzlich im Dunkeln aufblitzte.
»Er könnte durch das Städtchen gefahren sein, ohne anzuhalten«, sagte Joey. »Er könnte zum Black Hollow Highway und vielleicht zur Autobahn weitergefahren sein. Das war meine übliche Route ins College. Aber . aber ich glaube, daß er irgendwo dort unten ist und wartet.«
»Auf uns?«
»Er hat auf mich gewartet, nachdem er von der Bundesstraße auf die Coal Valley Road abgebogen war. Ist am Straßenrand stehengeblieben und hat abgewartet, ob ich ihm folgen würde.«
»Aber warum sollte er so etwas tun?«
Joey spürte, daß ihm die Antwort auf diese Frage im Grunde bekannt war. Unterdrücktes Wissen schwamm wie ein Hai mit mörderischen Zähnen im lichtlosen Meer seines Unterbewußtseins umher, wollte aber noch nicht auftauchen. Es würde ihn überfallen, wenn er am wenigsten damit rechnete.
»Früher oder später werden wir das erfahren«, sagte er.
Er wußte, daß eine Konfrontation unvermeidlich war. Sie wurden von der ungeheuren Schwerkraft eines schwarzen Lochs angezogen, auf eine unentrinnbare vernichtende Wahrheit zu.
Am Rand von Coal Valley glühte die offene Grube jetzt heller als zuvor. Rote Funken flogen aus der Erde empor wie riesige Schwärme von Leuchtkäfern, und sie wurden mit solcher Kraft ausgespien, daß sie mindestens dreißig Meter hoch durch den Regen schossen, bevor sie erloschen.
Weil er befürchtete, daß das flaue Gefühl in seinem Magen sich schnell in lähmende Schwäche verwandeln könnte, schaltete er das Standlicht aus und steuerte den Mustang auf das trostlose Dorf zu.
»Wir fahren direkt zu meinem Elternhaus«, sagte Celeste.
»Ich weiß nicht, ob wir das tun sollen.«
»Warum denn nicht?«
»Es scheint mir keine gute Idee zu sein.«
»Bei meinen Eltern werden wir in Sicherheit sein.«
»Es geht nicht nur darum, in Sicherheit zu sein.«
»Worum denn sonst?«
»Dich am Leben zu erhalten.«
»Das ist doch dasselbe.«
»Und ihm Einhalt zu gebieten.«
»Wem? Dem Mörder?«
»Ja. Das ergibt einen Sinn. Ich meine - wie könnte es eine Erlösung geben, wenn ich vor dem Bösen wissentlich die Augen verschließe und mich einfach aus dem Staube mache? Dich zu retten, ist nur die eine Hälfte meiner Aufgabe. Ihm Einhalt zu gebieten, ist die andere.«
»Das hört sich für mich jetzt wieder viel zu mystisch an. Wann rufen wir den Exorzisten, damit er mit Weihwasser ans Werk geht?«
»Es ist aber so. Ich kann nichts daran ändern.«
»Hör zu, Joey, ich werde dir sagen, was einen Sinn ergibt. Mein Vater hat einen Waffenschrank voller Jagdgewehre, auch eine Schrotflinte. Das ist es, was wir brauchen.«
»Aber wenn er uns nun dorthin folgt? Damit bringen wir auch deine Eltern in Gefahr, die ihm andernfalls vielleicht nie begegnen werden.«
»Scheiße, das hört sich alles total verrückt an«, sagte Celeste. »Und du kannst mir glauben, daß ich das Wort >Scheiße< nicht oft in den Mund nehme.«
»Die brave Tochter des Schulleiters«, neckte er sie.
»So ist es.«
»Übrigens hast du vor einer Weile etwas über dich gesagt, was nicht stimmt.«
»Was denn?«
»Du bist nicht unansehnlich. Du bist schön.«
»Na klar, eine zweite Olivia Newton-John«, spottete sie.
»Und du hast ein gutes Herz - viel zu gut, als daß du dein eigenes Schicksal auf Kosten des Lebens deiner Eltern abwenden würdest.«
Einen Moment lang war nur das Trommeln des Regens zu hören. Dann sagte Celeste: »Nein, um Gottes willen, das will ich auf gar keinen Fall. Aber es würde so wenig Zeit in Anspruch nehmen, das Haus zu betreten, ein Gewehr aus dem Schrank zu holen und zu laden.«
»Alles, was wir heute Nacht tun, jede Entscheidung, die wir treffen, hat weitreichende Konsequenzen. Übrigens wäre das in einer ganz normalen Nacht auch nicht anders. Das ist etwas, was ich einmal vergessen habe - daß es immer moralische Konsequenzen gibt; und dafür habe ich einen hohen Preis bezahlt. Heute trifft diese Wahrheit mehr denn je zu.«
Während sie das letzte Stück des langen Hügels hinabfuhren, auf den Ortsrand zu, fragte Celeste: »Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun - einfach durch die Gegend fahren, in Bewegung bleiben und darauf warten, daß die Lawine uns trifft?«
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