Während sie zu seinem Wagen rannten, sagte sie: »Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte.«
Das war eine seltsame Bemerkung, doch bevor er sie fragen konnte, was sie damit meinte, erreichten sie den Chevrolet -und er blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, so perplex, daß er ihre Worte völlig vergaß.
»Joey?«
Der Chevrolet war verschwunden. Statt dessen stand ein Ford Mustang da, Baujahr 1965. Sein Mustang. Das Wrack, das er als Teenager mit Hilfe seines Vaters liebevoll instandgesetzt hatte. Mitternachtsblau mit weißen Reifen.
»Joey, was ist los?« fragte sie.
In jener Nacht vor zwanzig Jahren, als er auf der Interstate einen Unfall gehabt hatte, war sein heißgeliebter Mustang schwer beschädigt worden.
Jetzt war der Wagen völlig unbeschädigt. Das Seitenfenster das zersplittert war, als er mit dem Kopf dagegenprallte, war wieder ganz. Der Mustang war das alte Prachtstück.
Der Wind heulte so, als hätte die Nacht plötzlich den Verstand verloren. Silberne Regenpeitschen wirbelten umher und knallten aufs Pflaster.
»Wo ist der Chevrolet?« fragte Joey mit schwankender Stimme.
»Was?«
»Der Chevrolet«, schrie er laut, um den Sturm zu übertönen.
»Welcher Chevrolet?«
»Der Mietwagen, mit dem ich unterwegs war.«
»Aber ... Sie waren mit dem Mustang unterwegs.«
Er sah sie ungläubig an.
Wieder kamen ihre Augen ihm irgendwie rätselhaft vor, aber er hatte nicht den Eindruck, daß sie ihn belog.
Er ließ ihren Arm los und ging um den Mustang herum, strich mit der Hand über den hinteren Kotflügel, über die Fahrertür, über den vorderen Kotflügel. Das Metall war kalt, glatt und naß, so stabil wie die Straße, auf der er stand, so real wie das Herz, das in seiner Brust schlug.
Nach jenem Unfall vor zwanzig Jahren war das Auto arg verbeult und der Lack zerkratzt gewesen, aber Joey hatte damit noch zum College zurückkehren können. Er erinnerte sich noch genau an das Klappern und Dröhnen während der Fahrt nach Shippensburg, ominöse Geräusche, die zu untermalen schienen, daß sein junges Leben zerstört worden war.
Er erinnerte sich an das viele Blut.
Als er jetzt zögernd die Fahrertür öffnete, ging im Innern das Licht an, und er konnte sehen, daß das Polster keine Blutflecken aufwies. Die Schnittwunde an der Schläfe hatte stark geblutet, bis er in ein Krankenhaus gefahren war, um sie nähen zu lassen, und bis dahin war sein Sitz schon stark mit Blut befleckt gewesen. Doch jetzt war er makellos sauber.
Das Mädchen war auf die andere Seite des Wagens gegangen, öffnete die Beifahrertür und stieg ein.
Nachdem er nun allein draußen stand, kam die Nacht ihm so völlig leblos vor wie ein unentdecktes Pharaonengrab, irgendwo tief unter dem Sand Ägyptens. Die ganze Welt schien tot zu sein, und nur Joey Shannon konnte noch das Wüten des Sturms vernehmen.
Es widerstrebte ihm, sich ans Steuer zu setzen. Das alles war viel zu seltsam. Er hatte das Gefühl, endgültig dem Delirium tremens verfallen zu sein - aber er wußte, daß er völlig nüchtern war.
Dann fielen ihm die Wunden ein, die er als Vision in ihren zarten Händen gesehen hatte, und er erinnerte sich an seine Vorahnung, daß die Gefahr für sie mit jeder Sekunde, die sie hier am Straßenrand verbrachten, größer wurde. Er stieg ein, schloß die Tür und gab ihr die Taschenlampe.
»Schalten Sie bitte die Heizung ein«, bat sie. »Ich bin am Erfrieren.«
Er selbst spürte kaum noch, daß er fror und völlig durchnäßt war. Starr vor Staunen, nahm er im Moment nur die Formen und Gerüche des mystischen Mustang wahr.
Der Zündschlüssel steckte.
Er ließ den Motor an, der einen unvergleichlichen Klang hatte und ihm so wohlvertraut wie seine eigene Stimme war. Dieses herrliche Geräusch übte auf ihn eine solche nostalgische Kraft aus, daß seine Stimmung sich schlagartig hob. Trotz der Unheimlichkeit des Geschehens, trotz der Angst, die ihn verfolgte, seit er am Vortag nach Asherville gekommen war, war er plötzlich fast glücklich.
Die Jahre schienen von ihm abzufallen. All die falschen Entscheidungen existierten nicht mehr. In diesem Moment lag die Zukunft so verheißungsvoll vor ihm wie damals, als er siebzehn gewesen war.
Das Mädchen fummelte an der Ventilation herum. Heiße Luft strömte ins Wageninnere.
Er löste die Handbremse und legte den Gang ein, fuhr aber noch nicht los. »Zeigen Sie mir Ihre Hände«, forderte er sie statt dessen wieder auf.
Obwohl sie ihn mit verständlichem Unbehagen anblickte, kam sie seiner Bitte nach.
Die Nagelwunden, die nur er sehen konnte, waren immer noch vorhanden, aber sie sahen nicht mehr ganz so schlimm aus und bluteten kaum noch.
»Wir tun das Richtige, indem wir von hier verschwinden«, sagte er, obwohl ihm klar war, daß seine Bemerkung für sie keinen Sinn ergab.
Er schaltete die Scheibenwischer ein und fuhr los, in Richtung Coal Valley. Der Wagen bewegte sich mit jener perfekten Eleganz, an die er sich noch so gut erinnern konnte, und sein Glücksgefühl wurde noch stärker.
Ein, zwei Minuten genoß er es einfach, am Steuer zu sitzen und durch die Nacht zu fahren. Seit seiner Teenagerzeit hatte er diese freudige Erregung nie mehr verspürt, Die Magie des Mustang. Ein junger Bursche und sein Wagen. Die Romantik der Straße.
Dann fiel ihm plötzlich ein, was sie gesagt hatte, als er total perplex vor dem Mustang stehengeblieben war. Joey? Sie hatte ihn mit seinem Namen angeredet. Joey, was ist los? Dabei wußte er genau, daß er sich ihr nicht vorgestellt hatte.
»Musik?« fragte sie nervös, so als würden sein Schweigen und die Faszination des Mustang sie stärker verunsichern als alles, war er vorher gesagt oder getan hatte.
Sie beugte sich vor, um das Radio einzuschalten. Die Kapuze ihres Regenmantels hatte sie zurückgeschoben. Ihr Haar war dicht, seidig und schwärzer als die Nacht.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, daß sie noch etwas Merkwürdiges gesagt hatte: Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte. Und davor: Sie sind mir früher nie merkwürdig vorgekommen.
Das Mädchen hatte einen Sender gefunden, der Bruce Springsteens »Thunder Road« spielte.
»Wie heißen Sie?« fragte er.
»Celeste. Celeste Baker.«
»Woher kannten Sie meinen Namen?«
Sichtlich verlegen wich sie seinem Blick aus, und er konnte sogar im schwachen Licht des Armaturenbretts erkennen, daß sie errötete.
»Ich weiß, daß Sie mich nie bemerkt haben«, murmelte sie.
Er runzelte die Stirn. »Bemerkt?«
»Sie waren in der High School zwei Klassen über mir.«
Joey wandte seinen Blick länger von der Straße ab, als bei der gefährlich nassen Fahrbahn vernünftig war. »Wovon reden Sie?« fragte er total verwirrt.
Sie starrte die beleuchtete Skala des Radios an. »Ich war in der zweiten High-School-Klasse, Sie in der vierten, und ich war wahnsinnig in Sie verknallt. Als Sie die Abschlußprüfung machten und aufs College gingen, war ich völlig verzweifelt.«
Es fiel ihm schwer, seinen Blick wieder auf die Straße zu richten.
Hinter einer Kurve fuhren sie an einem stillgelegten Bergwerk vorbei. Ein Förderturm ragte in der Dunkelheit empor wie das unvollständige Skelett eines prähistorischen Tieres. Viele Generationen hatten in seinem Scharten Schwerstarbeit verrichtet, doch jetzt waren diese Menschen entweder tot, oder aber sie hatten irgendwelche Jobs in den Großstädten. Joey verlangsamte das Tempo von achtzig auf sechzig Stundenkilometer, weil die Worte des Mädchens ihn so verwirrt hatten, daß er befürchtete, bei höherer Geschwindigkeit die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.
»Wir haben uns nie unterhalten«, fuhr Celeste fort. »Ich war zu schüchtern, um Sie anzusprechen. Ich habe Sie nur . na ja . aus der Ferne bewundert. Mein Gott, das hört sich schrecklich albern an!« Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, um zu sehen, ob er sich auf ihre Kosten amüsierte.
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