»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, sagte Joey.
»Wieso?«
»Wie alt sind Sie? Sechzehn?«
»Siebzehn, fast achtzehn. Mein Vater, Carl Baker, ist der Schuldirektor, und das macht für mich alles besonders schwierig. Ich fühle mich immer irgendwie ausgeschlossen, und deshalb habe ich es nie über mich gebracht, einen so attraktiven Jungen wie Sie anzusprechen.«
Joey hatte das Gefühl, in ein Spiegelkabinett geraten zu sein, in dem nicht nur die Bilder, sondern auch die Worte gräßlich verzerrt wurden.
»Wo soll da der Witz sein?«
»Witz?«
Er fuhr immer langsamer, hielt nicht einmal mehr mit den gurgelnden Wassermassen im Straßengraben Schritt, die im Scheinwerferlicht silbrig schimmerten.
»Celeste, verdammt, ich bin vierzig Jahre alt. Wie könnte ich da in der High School zwei Klassen über Ihnen sein?«
Ihre Miene verriet zunächst Erstaunen und Beunruhigung, aber gleich darauf hauptsächlich Ärger. »Warum sagen Sie so was? Wollen Sie mich veräppeln?«
»Nein, nein. Ich .«
»Wollen Sie die unansehnliche Tochter des Schulleiters zur Schnecke machen?«
»Nein, hören Sie zu .«
»Sind sie immer noch so unreif, obwohl Sie schon eine ganze Weile das College besuchen? Vielleicht sollte ich froh sein, daß ich nie den Mut hatte, Sie anzusprechen.«
In ihren Augen schimmerten Tränen.
Verdutzt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Straße zu
- gerade als der Springsteen-Song verklang.
Der Moderator sagte: »Das war >Thunder Road< aus Born to Run dem neuen Album von Bruce Springsteen.«
»Neu?« rief Joey.
»Ist das eine heiße Scheibe oder nicht?« fuhr der Diskjockey fort. »Man o Mann, dieser Bursche wird ganz groß rauskommen.«
»Das ist doch kein neues Album«, sagte Joey.
Celeste wischte sich die Augen mit einem Kleenextuch ab.
»Spielen wir noch einen Song von Springsteen - >She’s the One<, aus dem gleichen Album«, kündigte der Diskjockey an.
Mitreißende Rock’n’Roll-Klänge erschollen aus dem Radio. »She’s the One« war genauso frisch und kraftvoll wie vor zwanzig Jahren, als Joey den Song zum erstenmal gehört hatte.
»Wovon redet dieser Kerl?« sagte Joey.
»Born to Run ist doch kein neues Album - es ist zwanzig Jahre alt.«
»Hören Sie auf!« rief Celeste, halb wütend, halb verletzt. »Hören Sie auf damit, okay?«
»Es war damals der absolute Renner. Die ganze Welt war verrückt nach Born to Run.«
»Geben Sie es auf!« sagte Celeste scharf. »Sie machen mir keine Angst mehr, und heulen werde ich Ihretwegen auch nicht mehr.«
Sie reckte energisch ihr Kinn und preßte ihre Lippen fest zusammen.
»Born to Run ist zwanzig Jahre alt«, beharrte er.
»Blödsinn!«
»Zwanzig Jahre!«
Celeste rückte so weit wie möglich von ihm ab, an die Beifahrertür gepreßt.
Springsteen sang.
Joeys Gehirn arbeitete fieberhaft.
Ihm fielen mögliche Antworten ein, aber er wollte sie lieber nicht in Betracht ziehen, aus Angst, daß sie sich als falsch erweisen könnten, daß seine jähen Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen würden.
Die Straße verengte sich beträchtlich, und links und rechts ragten über zehn Meter hohe Felsen in die Dunkelheit empor. Ein Sperrfeuer aus kaltem Regen prasselte gegen den Mustang.
Die Scheibenwischer pochten eintönig - tapp, tapp -, so als wäre das Auto ein großes Herz, durch das anstelle von Blut Zeit und Schicksale gepumpt würden.
Endlich wagte Joey einen Blick in den Rückspiegel.
Im schwachen Licht des Armaturenbretts konnte er wenig erkennen, aber was er sah, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Staunen, Ehrfurcht, wildem Jubel, Angst und Entzücken. Diese Nacht und dieser Highway waren ein Wunder, das wußte er, denn er sah im Spiegel, daß seine Augen ganz klar waren, daß das Weiße wirklich strahlend weiß und nicht von zwanzig Jahren Suff trübe und blutunterlaufen war. Und seine Stirn war glatt und faltenlos, unberührt von zwei Jahrzehnten Sorgen, Bitterkeit und Selbstvorwürfen.
Er trat hart auf die Bremse, und der Mustang geriet mit quietschenden Reifen ins Schleudern.
Celeste schrie auf und stemmte sich am Armaturenbrett ab. Bei höherem Tempo wäre sie vermutlich gegen die Windschutzscheibe geprallt.
Der Wagen schlitterte auf die Gegenfahrbahn, kam der Felswand bedrohlich nahe, dreht sich dann aber um 180, rutschte auf die rechte Fahrbahn zurück und kam zum Stehen, allerdings in der falschen Fahrtrichtung.
Joey hantierte am Rückspiegel herum, stellte ihn höher und tiefer, um seinen Haaransatz und sein Gesicht zu betrachten. Keine Tränensäcke, keine Stirnglatze.
»Was machen Sie da?« wollte Celeste wissen.
Obwohl seine Hand heftig zitterte, gelang es ihm, das Standlicht einzuschalten.
»Joey, jemand könnte uns rammen!« beschwor sie ihn, obwohl keine anderen Scheinwerfer in Sicht waren.
Er beugte sich zu dem kleinen Spiegel vor, drehte ihn hin und her und verrenkte sich fast den Hals, um in dem schmalen Rechteck jede Partie seines Gesichts erkennen zu können.
»Joey, verdammt, wir können hier nicht einfach herumsitzen!«
»O Gott! O mein Gott!«
»Sind Sie verrückt?«
»Bin ich verrückt?« fragte er sein jugendliches Spiegelbild.
»Sorgen Sie dafür, daß wir von der Straße wegkommen!«
»Welches Jahr haben wir?«
»Lassen Sie doch endlich diesen Blödsinn!«
»Welches Jahr haben wir?«
»Das ist nicht komisch.«
»Welches Jahr haben wir?« beharrte er.
Sie wollte die Beifahrertür öffnen.
»Nein«, rief Joey, »warten Sie! Sie haben ja recht, ich muß weg von der Straße. Bitte warten Sie!«
Er wendete den Mustang und hielt dann am Straßenrand wieder an.
»Celeste, bitte seien Sie nicht böse auf mich, haben Sie keine Angst und verlieren Sie nicht die Geduld. Sagen Sie mir, welches Jahr wir haben. Bitte! Ich muß es aus Ihrem Mund hören, damit ich es glauben kann. Sagen Sie mir, welches Jahr wir haben, und dann werde ich Ihnen alles erklären - soweit ich es erklären kann.«
Celestes schwärmerische Verliebtheit war immer noch stärker als Furcht und Ärger. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher.
»Welches Jahr?« wiederholte er.
»1975«, sagte sie.
Im Radio verklang >She’s the One<.
Es folgte eine Werbung für den neuesten Filmhit: Al Pacino in Dog Day Afternoon.
Letzten Sommer war es Jaws gewesen. Steven Spielberg machte sich gerade einen Namen als Regisseur.
Im letzten Frühjahr war Vietnam aufgegeben worden.
Nixon hatte im Vorjahr das Weiße Haus verlassen.
Der liebenswürdige Gerald Ford war Präsident eines zutiefst verunsicherten Landes. Im September waren zwei Attentate auf ihn fehlgeschlagen: Lynnette Fromme hatte in Sacramento auf ihn geschossen, und Sara Jane Moore hatte ihn in San Francisco angegriffen.
Elizabeth Sedon war als erste Amerikanerin von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochen worden.
Jimmy Hoffa war gestorben. Muhammad Ali war Weltmeister im Schwergewicht.
Doctorows Roman Ragtime. Judith Rossners Looking for Mr. Goodbar.
Disco. Donna Summers. Die Bee Gees.
Erst jetzt fiel Joey auf, daß er zwar immer noch durchnäßt war, aber nicht mehr den Anzug trug, den er beim Begräbnis und beim Besuch in Kadinskas Kanzlei angehabt hatte. Er trug Stiefel, Blue Jeans, ein kariertes Flanellhemd und eine Jeansjacke mit Lammfellfutter.
»Ich bin zwanzig Jahre alt«, flüsterte Joey so ehrfürchtig, wie er früher in einer stillen Kirche zu Gott geredet hätte.
Celeste berührte sein Gesicht. Ihre Hand fühlte sich an seiner kalten Wange sehr warm an, und diese Hand zitterte nicht vor Angst, sondern vor freudiger Erregung - ein Unterschied, den er nur spüren konnte, weil er wieder jung war und feine Antennen für die Gefühle eines jungen Mädchens hatte.
Читать дальше