Joey atmete tief aus, holte Luft. »Es war mein Bruder. Er hat sie umgebracht.«
11
Zwei fette Ratten huschten quiekend durch den Altarraum, warfen grotesk lange Schatten und verschwanden in einem Loch in der Wand.
»Dein Bruder? P. J.?« fragte Celeste ungläubig.
Obwohl sie in der High School fünf Klassen unter P. J. gewesen war, kannte sie ihn. Das war nicht weiter verwunderlich, denn in Asherville und Umgebung hatte jeder P. J. Shannon gekannt, lange bevor er ein weltberühmter Schriftsteller wurde. Er war der jüngste Quarterback gewesen, den das Footballteam der High School je gehabt hatte, ein phantastischer Spieler, der seiner Mannschaft dreimal zur Regionalmeisterschaft verhalf. Er hatte immer die besten Zeugnisse, und bei der Schlußfeier durfte er die Schülerrede halten, doch trotz seiner Begabung, seines guten Aussehens und seiner vielen Erfolge blieb er ein umgänglicher Bursche, charmant und amüsant, aber auch freundlich und hilfsbereit. Bei den Wohltätigkeitsveranstaltungen der Pfarrei setzte er sich voll ein. Wenn ein Freund krank war, besuchte P. J. ihn stets als erster, brachte ein kleines Geschenk mit und munterte ihn auf. Hatte ein Freund irgendwelche Probleme, stand P. J. ihm mit Rat und Tat zur Seite. Im Gegensatz zu vielen anderen beliebten Schülern war P. J. überhaupt nicht arrogant; er unterhielt sich mit dem mageren und kurzsichtigen Leiter des Schachklubs genauso gern wie mit Sportkanonen, und er lehnte es kategorisch ab, Schulkameraden zu hänseln oder zu quälen.
P. J. war der beste Bruder auf der ganzen Welt gewesen.
Aber er war auch ein brutaler Mörder.
Joey konnte diese beiden Tatsachen einfach nicht in Einklang miteinander bringen, und er hatte das Gefühl, daß er den Verstand verlieren könnte, wenn er es allzu lange versuchte.
Immer noch auf der Altarstufe kniend, ließ Joey das kalte Handgelenk der Toten los. Die Berührung mit ihrem Fleisch hatte ihm auf geradezu mystische Weise zu einer schrecklichen Offenbarung verhelfen. Er hätte nicht erschütterter sein können, wenn er bei der Eucharistie tatsächlich gesehen hätte, wie sich die Hostie in den Leib Christi verwandelte.
»P. J. war an jenem Wochenende aus New York nach Hause gekommen«, erzählte er Celeste. »Nach dem College hatte er bei einem großen Verlag eine Stelle als Redaktionsassistent angenommen, und er wollte dort arbeiten, bis es ihm irgendwie gelingen würde, ins Filmgeschäft einzusteigen. Am Samstag hatten wir alle - die ganze Familie - viel Spaß gehabt. Doch nach der Messe am Sonntagmorgen setzte P. J. sich für den ganzen Tag ab. Er wollte Schulfreunde besuchen, um über die guten alten Zeiten zu plaudern, und er wollte ein bißchen in der Gegend herumfahren, um das bunte Herbstlaub zu bewundern.
>Ich möchte ein ausgiebiges Nostalgiebad nehmenc, erklärte er uns.«
Celeste drehte dem Altarsockel den Rücken zu, entweder weil sie den Anblick der Toten nicht mehr ertragen konnte, oder weil sie befürchtete, daß P. J. unbemerkt in die Kirche zurückkehren könnte.
»Sonntags haben wir normalerweise immer schon um fünf zu Abend gegessen«, fuhr Joey fort, »aber Mom wollte unbedingt auf P. J. warten. Er kam erst um sechs nach Hause, als es draußen schon eine ganze Weile dunkel war. Er war ganz zerknirscht, entschuldigte sich wortreich und erzählte, er hätte mit seinen alten Freunden so viel Spaßgehabt, daß er die Zeit ganz vergessen hätte. Wahrend des ganzen Abendessens war er unheimlich gut drauf, witzig und voller Elan, so als hätte das Wiedersehen mit seinem Heimatort ihn mit neuer Energie erfüllt.«
Joey zog die Plastikhülle über den nackten Arm der Toten. Er empfand es als obszön, ihre Hand mit dem Wundmal auf dem Altar liegen zu sehen, obwohl St. Thomas ja im Grunde keine Kirche mehr war.
Celeste wartete geduldig auf die Fortsetzung der Geschichte.
»Wenn ich es mir jetzt überlege, dann hatte er an jenem Abend vielleicht etwas Seltsames an sich, eine geradezu unheimliche Energie. Nach dem Essen rannte er in seinen Kellerraum, packte und stellte seine Koffer neben die Hintertür. Er wollte möglichst schnell losfahren, weil das Wetter so schlecht war, daß er frühestens um zwei Uhr nachts in New York ankommen würde. Aber Dad wollte ihn noch nicht fortlassen; er liebte P. J. sehr und war mächtig stolz auf ihn. Deshalb holte er die alten Alben mit P. J.s Footballtriumphen hervor und wollte in Erinnerungen schwelgen. Und P. J. zwinkerte mir zu, so als wollte er sagen: Verdammt, auf eine halbe Stunde kommt es jetzt auch nicht mehr an, wenn es Dad glücklich macht. Sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa im Wohnzimmer und schauten sich die alten Alben an, und ich dachte, ich könnte P. J. wenigstens ein wenig Zeit ersparen, wenn ich sein Gepäck im Kofferraum verstaute. Die Wagenschlüssel lagen auf der Küchenanrichte.«
»Es tut mir so leid, Joey«, sagte Celeste. »Es tut mir so wahnsinnig leid für dich.«
Joey konnte sich noch immer nicht mit dem Anblick der ermordeten Frau in der blutigen Plastikhülle abfinden. Der Gedanke, was sie erlitten hatte, drehte ihm fast den Magen um, machte ihm das Herz bleischwer und ließ seine Stimme schwanken, obwohl er nicht einmal wußte, wer sie war. Er konnte nicht einfach aufstehen und ihr den Rücken zuwenden. Er mußte an ihrer Seite knien. Sie verdiente seine Aufmerksamkeit und seine Tränen. Wenigstens in dieser Nacht mußte er Zeugnis von ihrem grauenvollen Tod ablegen -etwas, das er vor zwanzig Jahren versäumt hatte.
Wie seltsam, daß er jede Erinnerung an sie zwanzig Jahre lang verdrängt hatte - und doch war sie jetzt, während er die schlimmste Nacht seines Lebens noch einmal durchlebte, erst seit wenigen Stunden tot.
Doch ob es nun zwanzig Jahre oder nur wenige Stunden waren - retten konnte er sie jedenfalls nicht mehr.
»Der Regen hatte ein wenig nachgelassen«, erzählte er weiter, »und deshalb zog ich nicht einmal meine Windjacke an. Ich griff einfach nach den Schlüsseln, schnappte mir die beiden Koffer und trug sie zu P. J.s Wagen, der hinter meinem Mustang auf der Einfahrt stand. Ich nehme an, daß Mom etwas zu ihm gesagt hat, jedenfalls begriff er, was ich machte, ließ Dad mit den Alben sitzen und rannte mir nach. Aber es war schon zu spät.«
. ein leichter, aber bitterkalter Regen, das blutig verfärbte Licht der kleinen Glühbirne im Kofferraum, und P. J. steht da, so als wäre nicht die ganze Welt soeben zusammengebrochen, und Joey sagt wieder: »Ich wollte doch nur helfen.«
P. J.s Augen sind weit aufgerissen, und Joey hofft einen Moment lang verzweifelt, daß sein Bruder die Frau im Kofferraum ebenfalls zum erstenmal sieht, daß er entsetzt ist und keine Ahnung hat, wie die dorthin gekommen ist. Doch dann sagt P. J.: »Joey, hör zu, es ist nicht, was du glaubst. Ich weiß, daß es schlimm aussieht, aber es ist nicht das, was du glaubst.«
»O Gott, P. J.! O mein Gott!«
P. J. wirft einen Blick zum Haus hinüber, das nur fünfzehn oder zwanzig Meter entfernt ist, vergewissert sich, daß die Eltern nicht auf der Veranda stehen. »Ich kann es dir erklären, Joey. Gib mir eine Chance, verurteile mich nicht voreilig, gib mir eine Chance!«
»Sie ist tot! Sie ist tot!«
»Ich weiß.«
»Sie ist ganz blutig!«
»Beruhige dich, Joey.«
»Was hast du getan? Allmächtiger, was hast du getan?«
P. J. tritt dicht an ihn heran, drängt ihn gegen den Wagen. »Ich habe nichts getan. Jedenfalls nichts, wofür ich ins Gefängnis müßte.«
»Warum, P. J.? Nein, versuch nicht, es zu erklären. Das ist unmöglich. Für so etwas kann es keine harmlose Erklärung geben. Sie liegt tot in deinem Kofferraum, tot und blutig.«
»Schrei nicht so, Junge! Nimm dich zusammen.« P. J. packt seinen Bruder bei den Schultern, und seltsamerweise ist dieser körperliche Kontakt Joey nicht zuwider. »Ich habe es nicht getan. Ich habe sie nicht angerührt.«
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