Sie fuhren weiter und weiter, nie schneller als fünfzig. An manchen Stellen bremste Krista so scharf ab, dass die Reifen quietschten und der Volvo fast zum Stehen kam. Die laute Musik machte ihr nichts aus - sie dämpfte das metallische Scheppern und Knirschen des Fahrgestells.
Die Straße, sofern man überhaupt von einer Straße sprechen konnte, war wirklich schlimm.
Kath hielt nach Tieren Ausschau und ließ ihren Blick von einer Seite zur anderen schweifen. Vorhin hatte sie ein paar Kaninchen entdeckt, außerdem ein Rehkitz, das noch wacklig auf seinen Beinen stand.
»He, Mom, is' doch toll hier, nich'?«, schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte.
Krista nickte und dachte bei sich: Tja, wirklich toll Völlig orientierungslos am Arsch der Welt. Müde und gerade dabei, den Wagen deines Vaters zu Schrott zu fahren. Wirklich zum Totlachen, Mädchen.
Nach weiteren zwanzig Minuten - sie hatten nicht einmal zehn Kilometer hinter sich gebracht - entdeckte Kath in einer sonnigen Lichtung einen Mann, der gerade frisch gefällte Baumstämme auf den Anhänger eines kleinen, roten Traktors lud. Auf einem der Kotflügel lag eine Kettensäge, die im Sonnenschein funkelte.
»Sieh mal, Mom, da drüben.« Kath deutete auf die Lichtung.
Krista bremste ruckartig ab und hielt sofort an, denn es kam ihr so vor, als habe sie gerade den letzten Überlebenden auf dem Planeten Erde gesichtet. Der Waldmensch richtete sich auf, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen seines Overalls ab und wandte sich der Straße zu. Gleich darauf stieg Krista aus und ging mit steifen Beinen zur anderen Wagenseite hinüber. Dabei stellte sie fest, dass der Autolack mit einer dicken, grauen Staubschicht überzogen war.
»Entschuldigen Sie«, rief sie ins Gehölz hinein und schwenkte die Hand über dem Kopf. Der Mann winkte zurück und stapfte durch das Unterholz auf sie zu. Plötzlich schüchterte seine enorme Größe Krista ein.
»Ja, Ma'am?«, fragte er fast unterwürfig, während er mit sicherem Schritt die Böschung erklomm. Sein Grinsen wirkte sympathisch und freundlich, außerdem war er jünger, als Krista ursprünglich gedacht hatte. Aus der Nähe betrachtet sah er nicht älter als achtzehn oder zwanzig aus. »Was kann ich für Sie tun?« Er zog ein blaues Halstuch aus der Hüfttasche, rieb sich damit über die Stirn und steckte es wieder weg. »Ham Se sich verfahr'n?«
»Tja, bin vorhin, nahe bei Lincoln, falsch abgebogen.«
Sein Mund verzog sich zu einem noch breiteren, wissenden Grinsen. »Passiert oft. Wohin woll'n Se denn?«
»Na ja, eigentlich nach Boston, aber im Augenblick wär ich schon froh, wieder auf die Hauptstraße zu kommen.« Über die Schulter sah sie zu dem Feldweg hinüber, auf dem sie zuletzt gefahren waren. »Oder überhaupt auf irgendeine richtige Straße.«
»Teufel noch mal, is' doch 'ne leichte Übung.« Er wandte sich halb um und deutete irgendwohin. Dabei nahm er sein Ziel so ins Visier, als sei der ausgestreckte Arm ein Gewehrlauf. »Fahrn Se einfach aufm Weg weiter, den Se gekommen sind. Nur müssen Se sich rechts halten, wo der sich gabelt. Dann sind Se in Null Komma nix wieder auf der gepflasterten Straße.« Immer noch grinsend trat er einen halben Schritt näher. »Sind Se aus Kanada?«
»Ja«, erwiderte Krista und wich zur Fahrerseite des Volvo zurück. »Stimmt genau.«
Als die solide Breite der Motorhaube zwischen ihnen lag, war ihr schon wohler. Jetzt grinste der Typ Kath an, die immer noch auf ihrem Sitz herumhopste. Das Fenster war geschlossen. Der Bursche wirkte zwar durchaus freundlich ... Aber er roch schlecht und war einen ganzen Kopf größer als Scott, der immerhin auch gut einen Meter fünfundachtzig maß. Und seine Augen wirkten irgendwie seltsam. Sie wanderten allzu häufig hin und her, und eines war so nach außen gedreht, als spähe er heimlich auf einen Punkt in ihrem Rücken. Kristas Fantasie neigte dazu, mit ihr durchzugehen.
Schließlich hatte sie den Film The Texas Chainsaw Massacre noch gut in Erinnerung. Falls sich dieser Bursche in den Kopf setzen sollte, sie beide in den Wald zu schleppen, würden sie kaum eine Chance zur Flucht haben - Aerobics hin oder her.
»Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und ließ sich schnell auf den Fahrersitz gleiten. »Schönen Tag noch.« Insgeheim war ihr diese Phrase zwar zuwider, aber hier schien sie ihr angebracht.
Er kramte erneut das Halstuch hervor und wischte sich nochmals über die Stirn. »Wünsch ich Ihnen auch, Ma'am. Und denken Se dran: bei der Gabelung rechts halten.«
Während Krista losfuhr, beobachtete sie ihn im Rückspiegel. Er blieb noch einen Augenblick stehen, um ihnen nachzusehen, dann steckte er das Halstuch weg und machte sich auf den Rückweg zum Traktor.
Die Safari zu den baumreichen Ausläufern der White Mountains hatte sie gute drei Stunden gekostet. Um die Zeit wieder hereinzuholen, verzichteten sie darauf, zum Abendessen anzuhalten. Stattdessen knabberten sie beim Fahren ihre Brote, die mit Käse, Tomaten, Schinken und Salatblättern belegt waren.
Nach der Uhr am Armaturenbrett war es inzwischen 22.00 Uhr. Krista war klar, dass Caroline mittlerweile schon auf sie warten würde, aber sie waren immer noch auf der 122, gut vier Stunden von Boston entfernt. Sie hatte kurz überlegt, ob sie anhalten und nach einem Telefon suchen sollte, aber sie rechnete mit Carolines Verständnis, denn sie und ihre Halbschwester waren sich recht ähnlich.
Während sie durch die hereinbrechende Nacht fuhr und Kath leise neben ihr schnarchte, dachte sie voller Liebe an Scott. Nach dem Schrecken, den er ihr am Samstagmorgen eingejagt hatte, war ihr deutlich bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutete, wie sinnlos ihr Leben - abgesehen von ihrer Liebe zu Kath - ohne ihn wäre. Scott kannte seine Frau in- und auswendig und liebte sie wahnsinnig, daran hegte sie keinerlei Zweifel. Die gesamten zehn Jahre ihrer Ehe hindurch hatte er sie sozusagen auf Händen getragen.
Allerdings hatte Krista mitunter das beunruhigende Gefühl, dass es irgendwo tief in seinem Inneren etwas nicht sonderlich Erfreuliches gab, das Scott ihr vorenthielt. Irgendein dunkles Geheimnis, was es auch sein mochte. Im Laufe der Jahre hatte sie es immer weniger gespürt, dennoch gab es Zeiten ...
Wie zum Beispiel am Freitagabend, am Abend seines Geburtstages. Was hatte in dem Brief gestanden, den er an diesem Tag erhalten hatte - in dem Brief mit der Nachricht, dass sein früherer Kommilitone gestorben war? Was hatte er ihr verschwiegen? In seinem Gesicht hatte sich pures Entsetzen gespiegelt. Selbst wenn sein bester Freund Gerry gestorben wäre, hätte sie ein solcher Gesichtsausdruck verblüfft. Warum hatte er den Brief so ins Feuer geschleudert, als müsse er sich von einer zappelnden Schlange befreien?
Vor Jahren, als sie frisch verheiratet gewesen waren, hatten ihm Träume, nächtliche Albträume, so zu schaffen gemacht, dass er oft schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf gefahren war. Und er hatte danach stets behauptet, er könne sich an den Inhalt dieser Träume überhaupt nicht erinnern. Und da waren noch andere Dinge gewesen, die ihr aufgefallen waren: Manchmal, wenn sie beide allein gewesen waren und Krista sich beim Fernsehen in seine Armbeuge geschmiegt hatte, war es ihr eindeutig so vorgekommen, als nehme er sie gar nicht wahr, als sei er der Wirklichkeit völlig entrückt. Das war ein recht unheimliches Gefühl gewesen.
Doch das war Schnee von gestern, wie sie sich selbst sagte. Inzwischen hatten sie ein wunderbares Familienleben, und auch die Zukunft sah rosig aus. Sie würden gemeinsam alt werden und Fett ansetzen. Scott fehlte ihr, wenn sie nicht beieinander waren, aber sie wusste auch, dass er solche Trennungen auf Zeit schwerer nahm als sie. Nach ein paar Tagen ließ er sich dann irgendwie gehen, trank zu viel, aß nichts Gescheites und vergaß auch, aufzuräumen oder sauber zu machen. Obwohl er, wenn Krista zu Hause war, häufig kochte und putzte - es schien ihm wirklich Spaß zu machen. Er war nicht notorisch schlampig oder nachlässig, nur brauchte er seine Familie um sich herum. Sie war der Kitt, der ihn zusammenhielt. Auch das war für Krista ein beruhigendes Gefühl: Ihr Mann brauchte sie wirklich. Und sie machte kein Hehl daraus, dass sie dieses Gefühl genoss.
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