»Oh.« Batemans ursprünglich heftiger Ton schwand. »Nun ja, vielleicht gibt es ja gar keinen Grund zur Sorge. Solche Leute können sich auch einmal irren, wissen Sie ...« »Auf Wiederhören, Vince.«
»Wiederhören«, sagte Bateman und fügte hastig hinzu: »Geben Sie mir Bescheid, falls ... Auf Wiederhören, Scott.«
Mit einem verzweifelten Seufzer hob Scott Kaths Puppe auf und setzte sie auf die Tischplatte. Ihr Kopf sackte schlaff nach vorn. Er warf einen Blick auf die Uhr. Als er sah, dass es bereits auf Mitternacht zuging, fuhr ihm die Angst so heftig in den Rücken, als habe ihn ein Skorpion gestochen. Sie hätte längst anrufen müssen. Sie hätte anrufen müssen ...
Als das Telefon eine halbe Stunde später erneut klingelte, schrie Scott erschrocken auf, während er den Hörer ans Ohr nahm. »Scott, hier ist Gerry.«
Scott sank das Herz in die Hose. Es hätte Krista sein müssen, dann hätte er diese ganze verdammte Angelegenheit vergessen können. Er hätte ihr sagen können, dass er sie liebte, wäre danach ins Bett gegangen und hätte die ganze Sache seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben. Aber es war Gerry, und das verschlug Scott die Sprache. Da er das Schlimmste befürchtete, wollte ein Teil seines Ichs gar nicht hören, was sein Freund ihm mitzuteilen hatte.
Gerry rief jedoch nur an, um ihm zu versichern, die Polizei von Maine und Massachusetts werde volle Amtshilfe leisten. Er hatte den Polizisten mitgeteilt, es gehe um einen Fall von Kindesentführung, sie aber davor gewarnt, Gewalt anzuwenden: Vermutlich handle es sich bei der Kidnapperin um die vom Kind getrennt lebende leibliche Mutter. Da sich die Strafvollzugsbehörden nur ungern in häusliche Streitigkeiten einmischten, hatte er außerdem erwähnt, Mutter und Kind seien in einem gestohlenen Wagen unterwegs.
Nachdem sich Scott bei seinem Freund bedankt und für seinen kurz angebundenen Ton entschuldigt hatte, klemmte er das Telefon wieder in die Hand der Mickymaus.
Er machte ein weiteres Bier auf und stürzte es in hastigen, durstigen Zügen hinunter. Müde und hungrig wie er war, machte das Bier ihn sofort betrunken. Seine Muskeln schmerzten, genau wie seine Hüfte, und jetzt tat ihm auch noch der Kopf weh.
Das Donnergrollen da draußen rückte ständig näher, hin und wieder flammten im Süden grelle Blitze auf.
Sie hätte längst anrufen müssen, ging es ihm wieder und wieder durch den Kopf.
Sie hätte anrufen müssen ...
Als Scott gegen halb zwei Uhr morgens nach dem Sixpack Bier neben sich griff, fand er nur noch leere Dosen vor. Beim Aufstehen schwankte er. Er ging zur Stereoanlage hinüber, hob die Nadel von der Schallplatte - schon seit fast einer Stunde zirkulierte sie im Leerlauf und stieß immer wieder gegen das innere Etikett kehrte zum Telefon zurück und rief Caroline in Boston an. Das Gespräch war kurz, die Nachricht eindeutig. Sie hatten sich noch immer nicht bei Caroline gemeldet. Scott entschuldigte sich für die nächtliche Störung, worauf Caroline erwiderte, das sei schon in Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und aufgelegt hatte, versuchte er zu lesen - zuerst eine wissenschaftliche Fachzeitschrift, danach ein Groschenblatt-, starrte jedoch nur auf die ewig gleichen Zeilen, ohne ihren Inhalt zu erfassen. Gegen zwei Uhr forderte der Alkohol sein Recht, so dass er wie betäubt einschlief, ohne dass die Bilder ihn losließen. Immer wieder hatte er im Traum die Zeichnungen vor Augen, nur gehörte das Gesicht jetzt Kath.
Stunden später - jedenfalls kam es ihm so vor, in Wirklichkeit war nur eine einzige Stunde vergangen — fuhr er bei einem heftigen Donnerschlag auf. Der sommerliche Sturm tobte inzwischen so heftig, dass der Strom ausgefallen und das Haus in Dunkel getaucht war. Allerdings funkelte das Zimmer in dem Moment, als Scott die Augen aufschlug, im Widerschein eines grellen Blitzes. Während dieses kurzen Augenblicks strahlender Helligkeit fiel sein Blick auf Kaths Flickenpuppe, die vor ihm auf der Tischplatte thronte: Ihr plumper Körper war aufgeschlitzt, so dass die Füllung in einem hässlichen, grauen Bausch hervorquoll. Aus einem Winkel des mit Grübchen verzierten Mundes rann frisches Blut.
Gleich darauf wurde es wieder dunkel, und als hier und da ein Blitz aufflackerte, war die Puppe wieder ganz, war wieder die gute alte Jinnie. Irgendwann dämmerte der Morgen herauf.
Beim ersten Tageslicht rief Scott noch einmal bei Caroline an. »Wahrscheinlich haben sie einfach in irgendeinem Motel übernachtet«, meinte sie. Allerdings verriet ihre Stimme, dass auch sie sich inzwischen Sorgen machte. Beide wussten sie, dass es Krista gar nicht ähnlich sah, sich nicht zu melden. Auch dieses Gespräch war kurz.
Nachdem er seine übervolle Blase entleert hatte, holte sich Scott das schnurlose Telefon und machte sich damit auf den Weg zum See. Der Sturm hatte inzwischen eine Atempause eingelegt, es fiel nur leichter Nieselregen. Die sabbere, kühle Luft roch nach regenfeuchtem Laub. Auf halbem Weg zum See hinunter entdeckte Scott ein vierblättriges Kleeblatt und bückte sich instinktiv, um es zu pflücken, entschied sich jedoch dagegen und markierte die Stelle stattdessen mit einem abgebrochenen Zweig. Er nahm sich vor, damit zu warten, bis Kath wieder bei ihm war, und dann so zu tun, als habe er das Kleeblatt gerade erst entdeckt...
Während Scott sich alle Mühe gab, seine Sorgen zu verdrängen, setzte er den Weg zum See hinunter fort. Ringsum war das Grün blau gesprenkelt: Viele der dicken Blaubeeren, die man hier im August ernten konnte, hatten sich bereits vom Strauch gelöst und lagen auf dem Boden. Jenseits des Landestegs kräuselte eine Böe die Wasseroberfläche, um gleich darauf durch die Birken am Seeufer zu fahren und an ihren papierdünnen Blättern zu rütteln. Im Westen türmten sich zahlreiche noch nicht entladene Gewitterwolken übereinander und trieben wie in einer Regatta ungestüm dahin. Hinter Scott, im Osten, kämpfte die aufgehende Sonne um ihre Vorherrschaft. Ihr Licht erzeugte ein fast fluoreszierendes, gelbliches Grün, das unheimlich wirkte, als es die Hügel einhüllte und sie vor dem Hintergrund des rötlich übergossenen Himmels aufleuchten ließ.
Scott trat auf den Landesteg hinaus, blieb am Rand stehen und starrte in das aufgewühlte Wasser. Unwillkürlich versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, ins Wasser einzutauchen, sich bis zu den Zehen zu strecken und in hohem Bogen hineinzuspringen ... Dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich schnell wieder auf festen Boden zurückziehen musste.
Mein Gott, ich wünschte, das Telefon würde endlich läuten. Er konnte dessen stummes Gewicht in der Jackentasche spüren. Ob so oder so: Alles war besser, als derart im Dunkel zu tappen.
Ach ja, wirklich?
Er nahm am Picknicktisch Platz, legte die Füße auf die Bank, stützte das Gesicht in die Hände und schaukelte in stiller Qual vor und zurück. Der Gedanke, seiner Frau und seiner Tochter könne etwas zugestoßen sein, war ihm unerträglich, erfüllte ihn mit ohnmächtiger Angst ... nein, etwas noch Stärkerem. Seitdem er diese Zeichnungen entdeckt hatte, die möglicherweise mit seiner Familie zu tun hatten, war Scott ein einziges Nervenbündel, ging auf Schatten los, malte sich katastrophale Szenen aus, die er nicht verdrängen konnte. Nachts hatte er sich sogar in etwas hineingesteigert, das er für eine von Übermüdung und Stress verursachte Halluzination hielt: Im flackernden Widerschein des Blitzes war es ihm so vorgekommen, als sei Kaths Puppe aufgeschlitzt worden und voller Blut. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Krista anrief, bestärkte ihn in der Gewissheit, dass der Alte Recht gehabt hatte und ein Unfall passiert sein musste ... ein schlimmer Unfall. Ihm war kalt, er fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie die Fässer, die unter dem Anlegesteg trieben.
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