»Und die wäre?«
»Ein Bram. Es bedeutet, du hast den Jenti in irgendei ner Weise verletzt. Wenn das passiert, ist das ganz, ganz schlimm. Sollte das Gerücht umgehen, dass du ein Bram bist, wird dich irgendjemand dafür drankriegen.«
»Und wenn du >drankriegen< sagst —«, begann ich.
»Meine ich das, was du denkst, dass ich meine«, voll endete Justin. »Jedenfalls ist praktisch alles an Dracula zu mindest halb gelogen. U n d es gibt eine Menge Sachen, die er hineinnehmen hätte können und ausgelassen hat alles, was positiv an uns ist.«
»Und wer hat Stoker selbst drangekriegt?«, fragte ich.
»Niemand«, antwortete Justin. »Viele von uns wollten es, aber Dracula hatte ihn gezeichnet und der sagte Nein.
Sagte, es sei sein Fehler gewesen, Stoker überhaupt zu vertrauen, und dass es am besten wäre, die ganze Sache einfach einschlafen zu lassen. Du siehst ja, wie toll das ge klappt hat.«
»Moment mal«, sagte ich. »Willst du damit sagen, dass es Dracula wirklich gegeben hat?«
Justin warf mir einen seltsamen Blick zu. »Na klar.«
»Du denkst also, ich bin ein Stoker?«, fragte ich.
»Nö. Ich denke, du gehörst zu den Leuten«, antwor tete Justin.
»Und das heißt?«
»Leute sind Gadje, denen man trauen kann«, erwiderte Justin.
Plötzlich entschied ich, dass ich Justin sehr gernhatte.
»Wann hast du aus?«, fragte ich.
Justin sah auf seine Uhr. »In fünfzehn Minuten.«
»Möchtest du nachher noch abhängen?«
»Klar«, sagte Justin und schenkte mir ein schwaches, kleines Lächeln.
»Ich seh mich hier mal um«, sagte ich. »Bis gleich dann.«
»Okay«, erwiderte Justin.
Die Bibliothek war wie alles andere an der Vlad Dra cul — prächtig. Bücherregale, die vom Fußboden bis an die Decke reichten, überall Computer, Lehnstühle, große Tische, Pulte. Das Licht der Lampen war warm, die Teppiche dick. Ich konnte meine eigenen Schritte nicht hören.
Uber den Nischen an den Wänden waren große Schilder mit Goldbuchstaben angebracht: G E S C H I C H
TE, G E O L O G I E , A M E R I K A N I S C H E G E S C H I C H
TE. Dann kam ich zum letzten: D R A C U L A .
Jedes Buch dort war eine Ausgabe von Dracula. Regal um Regal in Englisch, aber es gab auch einen Bereich mit Ausgaben in anderen Sprachen. In jeder anderen Sprache, wie es schien.
»Finden Sie alles, was Sie brauchen?«, fragte Ms Shad well, die hinter mir aufgetaucht war.
»Oh, ich sehe mich nur um«, antwortete ich. »Warum haben Sie hier so viele Exemplare von diesem Buch?«
»Es gehört zur Pflichtlektüre jedes Schülers an der Vlad Dracul«, sagte Ms Shadwell. »Es wird in der fünften und achten Klasse sowie in der Highschool behandelt -
genau wie Amerikanische Geschichte.«
»Vielleicht sollte ich es dann jetzt lesen«, sagte ich. Ich versuchte sie zu beeindrucken.
Ms Shadwell tat so, als hätte ich ihr gerade einen Ca dillac geschenkt. »Wunderbar!«, sagte sie. »Hier, versu chen Sie es mit dieser Ausgabe. Nein, diese hier. Sie hat sehr gute Anmerkungen. Oder vielleicht doch diese hier; sie hat eine wirklich wunderbare Schrift.«
Sie überschüttete mich mit Draculas, bis ich die Bü cher kaum mehr festhalten konnte.
»Danke«, sagte ich. »Ich werde wohl dieses hier neh men.« Ich stellte die Bücher auf einem Regal ab und zog eines aus dem Stapel heraus, als hätte ich es mir genau überlegt.
»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«, fragte sie.
»Nein danke«, erwiderte ich. »Ich gehe noch mit Jus tin mit.«
»Das ist großartig!« Sie brüllte praktisch. »Sie können jederzeit wiederkommen, Master Cody.«
Justin und ich gingen zu ihm nach Hause. Keine Li mousine.
»Ich wohne in der Nähe«, sagte Justin.
Nach ein paar Blocks bogen wir in eine lange, schmale Straße ein, über der sich die ineinander verschlungenen Zweige von Bäumen wölbten.
Am anderen Ende der Straße stand ein windschiefes, baufälliges Haus, das aussah, als wäre es an die hundert mal auf beinahe hundert verschiedene Arten umgebaut worden. Es ging rauf und dann noch weiter rauf und schien überhaupt kein Ende mehr zu nehmen. U n d es sah so aus, als müsse es in jedem Stockwerk spuken.
Drinnen war es finster, abgesehen von einem Licht, das durch ein Fenster neben der Haustür drang.
»Das ist es«, sagte Justin und ließ mich ein.
Einen M o m e n t lang fragte ich mich, ob ich je wieder die Außenwelt erblicken würde.
Als Justin die T ü r aufstieß, sah ich einen warmen R a u m mit niedriger Decke. Es gab eine Ecke, wo wir unsere Stiefel und Mäntel ausziehen konnten, bevor wir hineingingen. Als wir das taten, schlug eine große Wanduhr leise viermal.
Irgendwo aus dem Hintergrund hörte ich wunderbare Klaviermusik. Ich erkannte die Melodie. Es war Eine kleine Nachtmusik.
»Meine Mutter gibt Klavier-Unterricht«, sagte Justin.
»Lass uns nach oben gehen. Ich stelle dich später vor.«
Wir gingen eine Treppe hinauf, die so alt war, dass sie Wellen schlug wie das Meer. Trotzdem knarrte sie kaum.
Wer auch immer sie gebaut hatte, hatte wohl gewusst, was er tat.
»Das ist mein Bereich«, sagte Justin. Er öffnete eine T ü r im zweiten Stock.
Es war eine kleine Wohnung mit zwei Räumen. Der eine R a u m war ein gewöhnliches Schlafzimmer, der an dere voller Aquarien. Es gab darin auch noch anderes Zeug - ein Fernrohr etwa, ein paar Sessel und einen Tisch -, aber der Rest waren Aquarien. U n d die Aqua rien enthielten nur eine Art Fisch.
»Ich züchte Segelflosser«, sagte Justin.
Alles sah alt, gemütlich und gebraucht aus, sogar die Fische.
»Das ist echt cool«, sagte ich.
»Magst du Fische?«, fragte Justin.
»Ich denke, schon«, erwiderte ich. »Ich weiß nur nicht viel über sie.«
»Ich habe alle Arten von Segelflossern, die es gibt«, sagte Justin. »Schwarze, marmorierte, goldene. Natürlich auch die normalen silbernen und gestreiften. Die über zähligen verkaufe ich an Tierhandlungen. Ich habe Kun den bis nach Oregon.«
Ich sah bloß diese ganzen Fische, die sich alle fast voll kommen glichen, in dem grünlichen Wasser an, wie sie in ihrer kleinen Welt langsam auf und ab schwammen, stumm und schön.
Aus irgendeinem Grund dachte ich an die Kids an der Vlad Dracul.
»Magst du mir beim Füttern helfen?«, fragte Justin.
»Klar«, sagte ich.
In der einen Ecke des Raums stand ein winziger Kühl schrank. Es waren eine Menge Tüten mit schlaffen brau nen Würmern, so fein wie ein Haar, darin.
»Tubifexwürmer«, sagte Justin. »Sie sind so was wie eine Nahrungsergänzung.«
Er nahm eine Tüte aus dem Kühlschrank und begann Klümpchen von Würmern in die Aquarien fallen zu las sen. Sie trieben an der Oberfläche und in jedem Häufchen versuchten ein paar, sich aus der Masse herauszuwinden.
Jedes Mal wenn Justin das machte, verwandelten sich die Segelflosser. Plötzlich waren sie wie Falken, die auf ihre Beute niederstießen. Sie stürzten sich so blitzartig auf die Würmer, dass ich ihnen mit den Augen nicht fol gen konnte. Dann fingen sie an, die Klümpchen ausei nanderzureißen. Sie inhalierten die W ü r m e r und hol ten sich dann Nachschub.
»Bitte schön«, sagte Justin und gab mir eine eigene Tüte. »Das ist alles.«
Es fühlte sich merkwürdig an, als ich meinen ersten Schwung Tubifexwürmer herauszog. Sie waren kalt, glit schig und schlaff. Sie bewegten sich erst, als sie im Wasser waren. U n d dann waren die Segelflosser hinter ihnen her.
Als wir fertig waren, waren es auch die Segelflosser in ihren Aquarien. Sie schwammen hin und her und hielten nach weiteren W ü r m e r n Ausschau. Wenn man in diese Aquarien blickte, war das so, als würde man lebende wis senschaftliche Schaubilder betrachten: Fische kurz vor der Fressorgie. Fische während der Fressorgie. Fische nach der Fressorgie.
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