»Niemand wird um mich trauern«, sagte Kerdac, »ich habe niemanden, der mich liebt. Ich bin seit meinem zehnten Jahr immer allein gewesen, ganz allein. Verstehen Sie, wie traurig das ist? Wissen Sie, was so ein armer, verschüchterter und freudloser Bub leidet? Pah –! Das kann niemand wissen! – Es ist ja so lange her. – Später, als ich aus dem Institut, in dem ich meine ganze sonnenlose Jugend verbracht hatte, herauskam, schickte man mich auf die Universität. Als ich vierundzwanzig Jahre alt wurde, erhielt ich ein Schreiben der Vormundschaftsbehörde; man gab mir mein Vermögen heraus, das ein alter, griesgrämiger Notar, der sich sonst um sein Mündel nicht gekümmert hatte, verwaltete. Ich nahm diese Tatsache mit jener stumpfen Gleichgültigkeit, mit einer Passivität auf, die mir zur zweiten Natur geworden war. Ich lebte nun besser als früher, hatte eine große, von einem kunstsinnigen Tapezierer ausgestattete Wohnung und vergrub mich in meine Bücher. Bücher kaufen war übrigens der einzige Luxus gewesen, den ich mir bisher gestattet hatte.
Ich interessierte mich, wohl infolge meines einsamen, verinnerlichten Lebens, außerordentlich für seltene, okkultistische Werke. Mit der Zeit sammelte ich eine ziemlich große Anzahl solcher Bücher, vom Agrippa von Nettesheim bis zu modern-spiritistischen Schriften. – Ich befaßte mich voll leidenschaftlichen Eifers mit der Entzifferung und Auslegung unbekannter, orientalischer Manuskripte. Nebenbei versuchte ich, praktische Magie zu betreiben. Aber abgesehen von flüchtigen Halluzinationen und visionären Traumbildern, die wohl nur infolge der dabei vorgeschriebenen Räucherungen mit aromatischen, zum Teil giftigen Stoffen entstanden, erlebte ich nichts, was mich den Geheimnissen, die ich ergründen wollte, näherbrachte. Einige Menschen, die ich im Lauf der Jahre kennenlernte und die sich im Verborgenen mit ähnlichen Dingen abgaben, behaupteten zwar, mehr als ich erkannt zu haben. Sie glaubten es vielleicht wirklich. Einmal wurde ich mit einem Menschen bekannt gemacht, der im Besitze unerhörter Zauberkräfte sein sollte und sich für einen Orientalen ausgab. Mit unerschütterlicher Geduld lauschten seine Jünger den Fantasien dieses Menschen, der im Grunde nur ein harmloser Schwindler war und sich auf seine Weise kleine Annehmlichkeiten ergatterte. Seine magnetischen Kuren veranlagten die Behörde, ihn in sein Heimatdorf in Bayern abzuschieben. Und so war auch das nichts gewesen. – Bitte, trocknen Sie mir die Stirne, Doktor!«
Der andere betupfte mit einem Tuch vorsichtig die Stirne Kerdacs, die mit großen Schweißperlen bedeckt war. Vielleicht ließ sich dies arme Leben doch noch etwas verlängern; die Nadel der bereitgehaltenen Pravaz-Spritze drang leicht durch die schlaffe Haut des Unterarmes. Die Injektion schien Kerdac wohl zu tun, er atmete tief auf und fuhr etwas lebhafter fort:
»Das habe ich Ihnen erzählt als eine der vielen Enttäuschungen, die ich erlitt. Es war immer dasselbe. In Indien, in Darbhangah, zeigte mir ein Fakir für zehn Rupien das berühmte Wachsen des Mangobaumes. Unter fortgesetzten Beschwörungen entsproßte dem eingepflanzten Samenkern eine hellgrüne, junge Pflanze, die immer höher wuchs, nachdem sie jedesmal mit einem Tuch bedeckt worden war. Schließlich entriß ich dem schreienden Kerl Topf und Pflanze – der Samenkern war gespalten und mit großer Geschicklichkeit ein abgeschnittener Mangosprößling hineingeklemmt. Im Tuch waren noch vier Stämmchen, eins immer größer als das andere.
Warum ich das erzähle? Um Ihnen zu beweisen, daß ich kein Neuling bin in diesen Dingen und Trug von Wirklichkeit wohl zu unterscheiden vermag. Um Ihnen begreiflich zu machen, daß das, was mich zu jenem unglückseligen Revolverschuß trieb, mehr war, als die Träume eines erregten Gehirns. Es war Wirklichkeit – ach, so schöne Wirklichkeit, und wieder so entsetzlich, daß kein Lebender sich das Maß von Grauen vorstellen kann, das ich durchlebt habe.
Nach den vorhin geschilderten Erlebnissen verbannte ich meine Zauberbücher in die Tiefe eines großen, verschlossenen Schrankes und ging ohne allen Gehirnballast auf Reisen. Es half mir nichts. Mein melancholisches Gemüt wurde nicht heiterer durch den raschen Wechsel der Eindrücke. Es lag ja in mir selbst, daß die Sonne am Mittelmeer anderen fröhlicher und heller strahlte als mir, daß mir die Rosen in Fiesole garstig und beklemmend dufteten, daß das blaue Meer nach Fischen und faulem Tang roch. In meinem Auge mußte ein Fehler sein, mein Gehör hatte gewiß eine häßlich mitklingende Saite. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ich an einer schönen Frau nichts anderes sah als ein Flöckchen Ruß, das der Wind an ihre Wange geweht und der Schleier verwischt hatte? Daß ich in einem Beethoven-Konzert die immer wiederkehrenden Anfangstakte eines Gassenhauers heraushörte? Warum sah ich in einem Stück, das andere Menschen in ihren Seelentiefen erschütterte, nur schmutzige Sofitten und die Runzeln des Schauspielers, der den jugendlichen Liebhaber gab? Ich war es! Ich litt an mir selbst!
Einmal war ich verliebt. Rasend, unsinnig – ich konnte nur in ihrer Nähe leben. Mag dieser Ausdruck banal klingen – er ist trotzdem gut. Diesmal sah ich keine körperlichen Fehler. Aber ich wurde von einer höllischen Eifersucht gepeinigt. Ich wußte, daß ich betrogen würde. Ich wußte zugleich, daß es nicht so war. Verstehen Sie mich? Ich konnte nicht anders – es stieß mich etwas, von der Geliebten schlecht zu denken und ich quälte die einzige Frau, die für mich auf der Welt war, mit meinem beleidigenden Mißtrauen, mit meiner höhnischen Resignation, bis sie, gekränkt und in ihren zartesten Gefühlen roh verletzt, weinend von mir ging. Und damit war für mich eigentlich alles aus, daran bin ich auch zugrunde gegangen. Ganz gewiß.«
Kerdac seufzte tief auf. Eine große Schwäche und ein Muskelzittern, das der Vorbote des nahen Endes zu sein schien, kam plötzlich über ihn. Aber diesmal ging es noch vorüber, und er erzählte weiter:
»Ich kann mich an nichts erinnern, das mir wirkliche Freude gemacht hätte. Ich habe alles versucht und alles hat mich enttäuscht; ich war unzulänglich, der Freude unfähig. Ich gab auch schließlich jeden Versuch, mein Leben zu verschönern, als nutzlos auf und geriet wieder in den alten Zustand vollkommener Lethargie. Ich stand auf, wenn ich genug geschlafen hatte, aß, trank und trieb mich zwecklos und gleichgültig auf den Straßen herum.
Eines Abends – ich lebte damals in Paris – saß ich in einem Boulevardcafe und trank ein Glas Bier. Es war ein warmer Regentag im Frühjahr. Die Lichter spiegelten sich in den nassen Trottoirs. Ströme von Menschen kamen vorüber. Einzelne lösten sich aus der Masse, kamen ins Cafe, andere, die herausgingen, verschwanden sofort in dem lebenden Strom. Mich unterhielt es fast, diese kleinen Vorgänge, die einer Symbolik des Lebens glichen, zu beobachten.
Auf einmal bemerkte ich, daß sich jemand an meinen Tisch gesetzt hatte, was mich sehr nervös machte. Ich sah den Menschen unfreundlich an. Es war ein armseliger, schlecht gekleideter Jude, mit rötlichem, zerzaustem Bart und unruhig-ängstlichen Augen. Er trank in kleinen Schlucken einen süßen Likör und nahm so wenig Platz ein, als nur möglich. Als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte, machte er eine erschrockene, hastige Verbeugung. Nach einiger Zeit redete er mich in schlechtem Französisch an, mit dem singenden Ton seiner Rasse. Er sprach sehr verlegen und stockend und ich merkte bald, wo er hinaus wollte. Erst heute war er, wie er sagte, in Paris angekommen, mit seiner Frau und drei kleinen Kindern, von denen eines sehr krank sei. Er wolle sich hier eine Existenz gründen, sei aber heute den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen und könne vor Hunger und Müdigkeit nicht mehr stehen. Seine Frau wartete auf ihn, irgendwo weit draußen. Und er habe keinen Sou in der Tasche, um den Kindern Brot zu kaufen. Ich sah ihn ärgerlich an, zuerst an einen jener zahllosen, unverschämten Bettler denkend, die von irgendeiner trübseligen, eingelernten Phrase viel besser leben als mancher brave Arbeiter. Aber seine Augen waren mit so heißer, verzweifelter Bitte auf mich gerichtet und hafteten mit so banger Erwartung an meinem Gesicht, daß ich ihm, meiner Absicht entgegen, ein Fünffrankenstück zuschob. Er brach in eine Flut von Danksagungen und in naive Segenswünsche aus, so daß er mir im höchsten Grade lästig erschien. Als er mich gar noch fragte, ob ich ihm nicht etwas abkaufen wolle, sagte ich in barschem Tone, er solle sich fortmachen. Aber er blieb ganz ruhig sitzen und nahm das Kästchen, das Sie, Herr Doktor, in Ihrer Hand halten, aus der Tasche und reichte es mir. Es sei von einem vornehmen Herrn aus Wien, der sich erschossen und aus dessen Nachlaß er es erstanden habe. Eine große Rarität müsse es sein und sehr alt. Er habe seinen Rabbi gefragt, was es sei, der habe ihm aber sehr streng befohlen, das alles zu verbrennen und es unter keinen Umständen zu verkaufen. Das wäre aber doch schade und er sei ein armer Mensch. Ob ich zwanzig Franken geben würde?
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