Dr. Klaar ließ sich noch einmal kurz informieren. Der Diener sprach schluckend und stotternd; er hatte sich von seinem Schreck offenbar noch nicht erholt. Sein Herr sei schon seit einiger Zeit hochgradig nervös und melancholisch gewesen; ohne eigentlich krank zu sein, wollte er oft wochenlang das Bett nicht verlassen, auch habe er Tage hindurch keine Nahrung zu sich genommen. Manchmal hätte er, wie es schien, Fieber gehabt, irre geredet und Schreckbilder gesehen, die ihn bedrohten. Besonders nachts hätte er häufig laut gestöhnt und aufgeschrien, so daß er, der Diener, mehrmals zu Tode erschrocken ins Zimmer geeilt wäre, um seinem Herrn beizustehen. Der Herr habe ihm aber solches stets sehr barsch untersagt und ein für allemal verboten, nachts bei ihm einzutreten, wenn nicht geklingelt würde. Heute habe der Herr einen besonders schlimmen Tag gehabt, sehr viel geächzt und gejammert und keinen Bissen gegessen. Um halb sechs Uhr abends hätte er geläutet und ihn mit einer Kommission beauftragt, für die beiläufig eine Stunde erforderlich war. Er wäre aber mit seiner Arbeit nicht gleich fertig geworden, hätte sich um ungefähr zwanzig Minuten verspätet, als im Schlafzimmer ein dumpfer Knall erfolgte. Und als er sah, daß sein Herr auf sich geschossen, wäre er augenblicklich zum Telefon gelaufen und hätte ins Cafe Zentral telefoniert, wo, wie er zufällig wußte, die Herren von der Klinik ihre Zeitung lasen. Das sei aber schon vor einer Viertelstunde geschehen.
»Gut«, sagte der Doktor, »Sie werden mir Papier und Tinte geben und dann mit dem, was ich aufschreibe, sofort ins Polizeigebäude gehen. Es ist meine Pflicht, gleich die Anzeige zu erstatten.«
Im selben Augenblick bemerkte der Arzt, daß Kerdac die Augen weit geöffnet hatte und die Lippen bewegte. Er eilte hin und beugte sich über den Schweratmenden.
»Schicken Sie den Diener in sein Zimmer«, flüsterte Kerdac, »ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Dr. Klaar bat ihn, sich ruhig zu verhalten; er wolle nur etwas aufschreiben und in die Apotheke senden.
»Apotheke – nicht wahr?« stöhnte der Kranke. »Ich habe alles gehört, was gesprochen wurde. Wozu die Polizei? Es wird sehr bald aus sein. Ich möchte Ihnen Wichtiges mitteilen.«
Er brach ab und begann auf der Decke zu fingern. Sein Gesicht verfiel rasch und die Nase wurde spitzig.
Das hippokratische Gesicht – dachte der Arzt und dann fiel ihm ein, daß es in diesem Falle wohl gleichgültig und ganz und gar seine Sache sei, wenn die Polizei die Meldung um zehn Minuten später erhielt.
Er beschloß, den Willen des Sterbenden zu erfüllen, wies den Diener an, sich in seinem Zimmer bereit zu halten und setzte sich dicht neben den Kranken, der dankbar lächelnd die Oberlippe emporzog. Es widerstrebte ihm, den Armen noch mit der Untersuchung durch die Sonde zu quälen. Seiner Schätzung nach steckte das Blei im unteren Teil des Herzbeutels. Wie durch ein Wunder vermochte das Organ noch auszuhalten. Mühsam pumpte es noch einige Zeit das Blut durch den Körper – mit immer schwereren Schlägen.
»Greifen Sie unter mein Kopfkissen«, murmelte Kerdac. Der Arzt erfüllte seinen Wunsch und zog ein schmales Kästchen aus rotbraunem Maroquinleder hervor. Auf dem durch die Zeit glänzend poliertem Deckel war ein Wappen in Reliefpressung: eine geflügelte Schlange mit einem Frauenkopf. Darunter stand in lateinischen Buchstaben A Tormento.
»Sehen Sie alles genau an«, sagte Kerdac. »Ich sterbe noch nicht. Mir ist ganz wohl.« Seine Lider klappten herunter, so daß der Arzt sich erschrocken vorbeugte. Kerdac lag bewegungslos und atmete regelmäßig, wenn auch sehr schwach.
Dr. Klaar öffnete das Kästchen. Es war mit ehemals weißem, längst gelblich gewordenem Samt gefüttert. In zwölf halbrunden Vertiefungen lagen dünne Steinschliffe, glatt und durchsichtig, darüber, wie ein Schutzdeckchen, eine Halbmaske, aus brüchiger, schwarzer Seide. Die Maske hatte nur eine einzige runde Öffnung an der Stelle des rechten Auges, und diese war mit einer Art von vorstehendem Rand versehen, als sollte ein kleines Augenglas eingeschoben werden. Ein schmaler Pergamentstreifen, der in der Maske lag, war ebenfalls mit lateinischen Buchstaben bedruckt oder sehr geschickt beschrieben.
Der Doktor blickte fragend auf den Kranken und sah dann wieder den Zettel an, als jener die Augen beharrlich geschlossen hielt. Der Inhalt war ihm vollkommen unverständlich, sowohl die Überschrift als alles andere:
Die wahren Kleinodien des Tormento.
Januarius. – Hyacinth. – Eva.
Februarius. – Amethyst. – Poppäa.
Martius. – Heliotrop. – Salome.
Aprilis. – Saphir. – Selene.
Majus. – Smaragd. – Diana.
† Junius. – Chalcedon. – Nahema. †
Julius. – Carneol. – Astarte.
Augustus. – Onyx. – Semiramis.
September. – Chrysolith. – Lilith.
Oktober. – Aquamarin. – Undine.
November. – Topas. – Roxane.
Dezember. – Chrysopras. – Helena.
Rufe alle, nur Nahema nicht!
Dr. Klaar hat laut gelesen. Wie ein verwehtes Echo klang es von den Lippen des Verwundeten: »– – – nur Nahema nicht –!«
Und dann sah Kerdac mit erstaunten Blicken, wie aus tiefem Schlaf erwacht, den Fremden an, der da an seinem Lager saß, und betrachtete die wohlbekannten Gegenstände in seinem Zimmer.
»Ich war bewußtlos?« fragte er mit schwacher Stimme. »Ich fühlte, wie ich versank – – immer weiter ins Schwarze – – –«
Ein heftiger Schauer überlief seinen Leib. Seine Hand haschte nach der des Arztes.
»Sagen Sie, – Herr Doktor –, es – ist also keine Rettung –? Wenn man eine Operation vornähme?«
Dr. Klaar sah unwillkürlich weg und versuchte, den Kranken mit den üblichen, nichtssagenden Phrasen zu trösten und ihm Mut einzureden. Es war nicht das erstemal, daß er bei einem Selbstmörder dieses entsetzliche Erwachen mitansah, die jähe Erkenntnis einer unsinnigen, jämmerlichen Tat, die nicht mehr gutzumachen war. – Er dachte an jene arme Näherin, die vor drei Wochen in seinem Spital an Phosphorvergiftung gestorben war, – bis zum Schluß trotz ihres bitteren Lebens, das sie ungeschickt und qualvoll beendigen wollte, mit allen Gedanken auf Genesung hoffend. Und doch hätte dies Gesundwerden nichts anderes für sie bedeutet, als ein Weiterschreiten auf ihrem Leidenswege, doppelt schwer zu ertragen um des kleinen, krüppelhaften und namenlosen Geschöpfes willen, das sie, verlassen wie ein Tier auf der Heide, in ihrer frostigen Dachkammer zur Welt gebracht hatte. – Glücklich die, die sich schnell zu töten wußten, die hinüberschliefen oder die das Ende blitzartig traf, mitten im blühenden Leben, so schnell, daß sie keinen Gedanken mehr denken konnten.
Kerdac hatte Tränen in den Augen, als er die Miene des Arztes sah. Aber er war tapfer genug, sich abzufinden.
»Dann will ich Ihnen alles erzählen«, sagte er leise, »Sie allein sollen es wissen.«
»Sie sollten nicht viel sprechen«, erwiderte Dr. Klaar und sah unschlüssig auf die Uhr. Er wunderte sich, daß er hier saß, anstatt die vorgeschriebene Anzeige zu erstatten.
»Bitte – bleiben Sie da – – –«
Ein tiefes Stöhnen, dem ein schluchzender Laut folgte, zeigte die krampfartigen Schmerzen Kerdacs an. Er hielt die Hand des Arztes mit hilflosen, schwachen Fingern so fest als möglich umspannt, als fürchtete er, allein und einsam sterben zu müssen, und könne ihn so halten. Als er sich ein wenig erholt hatte, begann er hastig zu sprechen; allmählich wurde seine Stimme ruhiger und vernehmlicher, wenn auch so leise, daß der Doktor sein Ohr dem Munde des Schwerverletzten nähern mußte, um ihn vor gefährlicher Anstrengung zu bewahren. Während der ganzen Erzählung hielt Dr. Klaar das seltsame Kästchen in der Hand.
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